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Artikel 4
„Lasst uns Erinnern an die gemeinsame Zeit.”
Am Ende eines jeden Jahres erinnern wir uns oft und gerne an all die Dinge, welche wir erreichen konnten, an Zeiten, die Neues brachten und uns Abschied nehmen lies vom Alten und natürlich auch an all die Situationen, die zu meistern uns auch weiterhin beschäftigen wird und muss.
Ohne Frage sollte ebenso den Menschen, welche unser Leben bereichert haben und hoffentlich auch künftig werden, Erinnerung gebühren.
Ob diese uns bereits ein Leben lang begleiten oder auch nur ein Stück des Weges, ob es die Familie ist, alte Vertraute, neue Freunde oder prägende Fremde, jede Begegnung kann auf uns Einfluss nehmen. Denn andere Menschen können und werden den Lauf unser aller Lebensgeschichten formen.
Und wir somit auch den Ihrigen!
So sollte sich ein Jeder der Menschen erinnern, welche den eigenen Lebensweg zäunen und wir als Gemeinschaft dürfen auch den Einzelnen nicht vergessen.
9
Es hatte aufgehört zu Regnen und wie um das Unglück derer zu unterstreichen, welche in den plötzlichen Regenguss geraten waren, erstrahlte der Himmel nun erneut unschuldig im schönsten Sonnenschein.
Ein paar Kurgäste trollten sich tropfnass, aber lachend zurück in die Klinik und begrüßten die herausströmenden Mitpatienten, während das Klinikpersonal gutgemeint kopfschüttelnd Handtücher verteilte. Lediglich die kleine schwarz-weiße Katze schien unbeeindruckt vom ganzen Spektakel und begann sich zitternd trocken zu lecken.
Charlotte wurde den Eindruck nicht los, dass der finstere Blick des sonst so possierlichen Kätzchens bedeutete, dass das Tier die Sinnhaftigkeit von Regenwetter schwer infrage stellte. Auch schien sie vom ihr angebotenen Handtuch nur wenig zu halten und wehrte sich merklich gegen den Versuch sie beim abtrocknen zu unterstützen, was Charlotte sehr amüsierte, nicht nur, da die Katze nach gewonnenem Kampf lediglich zwei Meter weiter wieder Platznahm, um, wie über die Störung empört, mit dem Rücken zum handtuchschwingenden Pfleger ihre Morgentoilette fortzusetzen, sondern auch wegen des vom Gefecht gezeichneten Pflegers, welcher nicht minder entrüstet wirkte.
Der Anblick Marias, welche mit eingefallenen Zügen über ihrem aschfahlen Gesicht an Charlotte vorbei zog, diese ansehend offenbar ohne sie wahrzunehmen, ließ Charlotte kurz innehalten. Keine Spur mehr von der Schamesröte und dem verhaltende Lächeln, welches Charlotte noch am vorigen Tag zu einem breiten Grinsen veranlasst hatten, als sie den beinahe lächerlich wirkenden Versuch auf subtile Weise zu flirten, zwischen Maria und Jack aus der Ferne beiwohnen durfte.
Irgendwie süß war sie ja, wenn auch offensichtlich mehr als unsicher in ihrem Auftreten; Irgendetwas verunsicherte Maria Walder augenscheinlich und das nicht erst seit heute. Dass sie unerfahren und aufgeregt war, konnte diese schon während der famose Begegnung im Stadtpark kaum verbergen, doch Charlotte hatte da zumindest den Eindruck gewonnen, Maria wäre selbstsicher in ihrem Auftreten, wenn schon nicht aufgrund von Selbstvertrauen, aber doch wenigstens aus antrainierter Gewohnheit. Nun wirkte sie selbst aus der Entfernung verhuscht, ja beinahe ängstlich.
Bevor Charlotte ihre Analyse fortsetzen konnte, bekam sie Gesellschaft auf ihrer Bank und wurde vom Gesprächswall einer Mitpatienten förmlich überrollt. Diese plapperte so aufgeregt auf Charlotte ein, dass diese ihr nicht hätte folgen können, selbst wenn sie willens dazu gewesen wäre. Und so blendete sie diese aus; nickte freundlich zustimmend und wartete die Zeit ab, bis sie endlich erneut allein war und ihre Aufmerksamkeit wieder auf Maria lenken konnte, welche sich in der Zwischenzeit der kleinen Katze zugewandt hatte.
Wie, um dem leicht lädiertem Pfleger noch eins auszuwischen, ließ sich das Kätzchen von Marias Hand das Abtrocknen sehr wohl gefallen; ja schmiegte sich an sie, was zumindest etwas Farbe auf Marias Wangen zurück zu bringen schien. „Muss doch nen Therapietier sein.”, mutmaßte Charlotte zufrieden in sich hinein, bevor sie erneut in ein Gespräch verwickelte wurde.
Gerade wollte sie sich höflich, aber bestimmt entschuldigen, da winkte ihr Maria Freude strahlend zu, zeigte danach neben sich und zog, in eine animierte Unterhaltung versunken, weiter.
Charlotte spürte wieder mehr als dass sie sah, dass Dr. Hinterseers strenger Blick auf ihr ruhte. Sie spürte das gleiche Gefühl der Beklemmung ihren Rücken emporkriechen, wie das bereits am Tag zuvor unter seiner Beobachtung durch ihr Zimmerfenster geschehen war. Sich selbst zur Ruhe zwingend, warf sie einen direkten Blick auf den Doktor; sie wollte ihm stark in die Augen sehen. Zu ihrer Enttäuschung, aber auch Erleichterung, hatte dieser seiner Aufmerksamkeit mittlerweile auf Maria gelenkt, welche noch immer zutiefst in einer Unterhaltung versunken am Rande des Klinikgartens stand.
Scheinbar verdrossen darüber, sowohl Marias Beachtung als auch streichelnde Hand verloren zu haben, zog die kleine Katze schließlich mit hängendem Kopf an Charlotte in Richtung Stadt vorbei und ließ diese mit ihrer nach wie vor monologisierenden Banknachbarin allein zurück.
„Stets von Bestand”
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Dass Fell war noch immer nicht ganz trocken, da sah sich die kleine Katze in Gefahr in einen weiteren Regenguss zu geraten, als sie den Marktplatz betrat. Als wären ihr die dunklen Wolken gefolgt, thronten diese nun über Eatrichs Stadtmitte und wirkten sicher nicht nur auf das Kätzchen bedrohlich, da dass Gelände vor dem Rathaus mit einem Mal beinahe düster, ja gespenstig geworden war.
Ein plötzliches Bersten trieb das verschreckte Tier unter den Pavillon und inmitten von Schuhwerk, welches, in der Not auszuweichen, aufgeregt um sie herumwirbelte.
„Uh… pass doch auf!”, klapperte es neben ihr.
„Nein, kann Jemand bitte was unternehmen?”, quietschte es von vorn.
„Moment.”, dröhnte es von der anderen Seite, bevor warme Hände sie hochhoben, auf einen weichen Stuhle beförderten und ihr etwas grob über den Kopf streichelten.
„Hab sie heute morgen beim Bäcker gesehen! Keinen Blick hat sie mir gegönnt… arme Frau”, sprach die warme Hand, bevor sie endlich von ihr abließ.
„Ja, aber nutzt ja nichts.”, brummte es an ihr vorbei.
„Er hat sich ja schon verdächtig gemacht.”, raunten die groben Hände erneut.
„Warum hat er auch die Aussage verweigert?!”, stimmten verschiedenen Seiten mit ein.
Das aufgekommene Stimmengewirr unterbrach sich harsch, um den Blick in gemeinsamer Schweigsamkeit auf das Paar zu richten, welches ebenfalls in Schweigen gehüllt den Marktplatz überquerte, um Eatrich nach Norden raus zu verlassen.
„Also früher wäre sowas nicht passiert!”, schoben sich nun ohne Vorwarnung feuchte Finger durchs Fell; gebrauchten es als Handtuch. Um diesem Missbrauch zu entgehen, sprang das schwarz-weiße Kätzchen zur Tafel hinauf und lief unter Gekreische über halbfertige Tischdekorationen, Krepp-Papier und Girlanden aus dem Pavillon hinaus, dem Pärchen hinterher und zurück in die Richtung, aus der es gekommen war.
***
Bernhard hätte wissen müssen, dass Emily und er nicht ohne Aufhebens über den Markt kommen würden. Die Kleidung, unter der sie sich zu verstecken suchten, zog vermutlich sogar mehr Aufmerksamkeit auf sie, als dass sie ihnen Schutz vor den widrigen Wetterbedingen bot.
Aber es nutzte nichts.
Seine Freundin hatte ihm das Versprechen abgenommen, um Hilfe zu bitten und eine Therapie zumindest in Betracht zu ziehen. Dass es die neue Klinik gab, kam ihm gerade recht. Denn keiner der Ärzte, Therapeuten und Pfleger gehörten zur ursprünglichen Nachbarschaft Eatrichs und so versprach er sich zumindest ein gewisses Maß an Anonymität; wenigstens innerhalb des Klinikgeländes.
Also hatten sie sich gemeinsam aufgemacht.
Sie steckten beide in Kleidung, in der sie fast verschwanden, da die vergangenen Jahre – ihre Krankheit, sein Lebenswandel – bei Weitem nicht spurlos an ihnen vorüber gezogen waren. Bestimmt hatte ihr der schwere, dunkelgrüne Mantel nebst passendem Hut einst wunderbar gestanden und auch ihm fehlten ein paar gesunde Kilo, um die früher sehr geschätzte, schwarze Lederjacke auszufüllen.
Bernhard wäre sich schäbig vorgekommen, hätte Emily ihm nicht mit ihren strahlenden Augen und dem leicht verschmitzten Lächeln, was es so mochte, den Schal umgebunden und ihm anschließend einen Kuss verpasst; auch wenn bloß auf die Wange.
„Im Wechsel behaftet”
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Papierdünne Haut. Aufgelöst. Nur harte Augen. Immer auf mich… auf mich gerichtet. Ein Strudel aus Nichts. Aus Kälte. Aus Hitze. Aus Allem. Ich verstehe es nicht!
***
Charlotte war schon wieder leichenblass, Maria machte sich Sorgen.
Ob diese Einrichtung überhaupt dafür geeignet war, Menschen wie Charlotte wirklich helfen zu können? Sie würde Dr. Embrich darauf ansprechen.
Doch zuerst wollte Maria ihr ihre neue Bekannte vorstellen. Bestimmt würden sie sich mögen. Und bedanken musste sie sich bei Charlotte auch noch, denn nur ihrem Ratsschlag hatte Maria es zu verdanken, dass diese sich inzwischen in jeder freien Minute dieses Tages wunderbar unterhalten fühlte und auch hatte.
„Ach verdammt! Was ist das?” Ein unangenehmes Kribbeln lenkte Maria ab. Bestimmt wieder so ein Krabbeltier; den ganzen Tag war sie schon verfolgt wurden. „Das muss am Wetter liegen.” Mit zusammengekniffenen Lippen entfernte sie den kleinen schwarzen Käfer von ihrer Armbeuge und lief weiter auf ihr Gegenüber zu.
„Charlotte! Ich will dir… Was hast du?”
Traurige Augen blickte ihr entgegen und ein Gefühl der Verunsicherung machte sich in Maria breit. Hatte sie was falsch gemacht? Ach, bestimmt kannte Charlotte ihre neue Bekanntschaft schon. So viele Patienten waren es ja auch noch nicht. Aber nein. Warum sollte sie deshalb betrübt sein? War zwischen ihnen was vorgefallen?
***
Zähe Tropfen, glühend durchbohren meine Haut. In Brandblasen geschlagene Eiszapfen regnen auf mich danieder. Und immer nur diese Augen über mir.
***
„Es tut mir leid.” Charlotte hatte einen fast schon zu sanften Tonfall und sie war nun beinahe grau im Gesicht, die Lippen aufgerissen und blutig gekaut. Aus Angst sie könnte erneut zusammenbrechen, wandte sich Maria hilfesuchend an ihre neue Bekannte und bedeutete ihr Dr. Hinterseer zu holen, welcher gerade eben in den Garten getreten war, um ein paar Leuten das Gelände zu zeigen.
„Hilfe ist schon unterwegs!” Maria griff nach Charlottes rechter Schulter, um sie zu stützen, doch schreckte zurück, als sie bemerkte, das wieder so ein schwarzer Käfer in ihrer Armbeuge hockte.
***
Keine Atmen mit durchstoßener Lunge… knochige Finger umgreifen mich.
***
Dr. Hinterseer hatte sich mit samt seiner beiden Begleiter zu ihnen gesellt.
Zu seiner Linke eine Dame mittleren Alters, deren Haar unter einer Mütze versteckt und deren Körper durch einen weiten Mantel verhüllt war. Zu seiner Rechten ein Mann, der sich, wie um sich zu verbergen, ebenfalls tief in eine übergroße Jacke hüllte. Ein hellgrauer Schal verdeckte halb sein Gesicht, doch zog gleichzeitig den Blick auf das selbige und Maria sah genug, um den Herrn wieder zu erkennen.
„Oh, mein… Sie sind der Mann von dem Bild! Das ist ja verrückt. Siehst du, genau so habe ich ihn beschrieben.”, wandte Maria sich zu ihrer Bekannten um, die nun nirgendwo mehr zu sehen war.
„Wo ist sie hin? Haben Sie sie verschreckt? Sie ist empfindlich! Was haben Sie zu ihr gesagt?”, verlangte sie mit nun, mit für ihre Ohren, beinahe schrill klingender Stimme.
Sechs Paar Augen sahen sie verwundert an, nur Charlotte blickte wissend, wenn auch betreten.
„Sie ist nicht real.” Schon wieder dieser sanfte Tonfall.
„Maria, es tut mir leid, aber deine Freundin existiert nicht; zumindest nicht für die Augen aller Anderen.” Charlotte wollte nach ihr greifen, doch Maria stieß sie von sich.
„Was redest du da?! Du hast sie doch gesehen, als sie mit der Katze gespielt hat! Du hast mir erklärt, wie ich mich ihr am besten nähern kann! Du…“
Dr. Hinterseer war inzwischen an Maria herangetreten, seine Haltung offen, sein Blick ruhig.
„Charlotte muss sich irren, bestimmt verwechselt sie was, wo sie doch krank ist. Schauen Sie sie an, ganz sicher ist sie es, die sich Sachen einbildet. Erklären Sie es ihr Doktor!”, flehte Maria mit leiser, zittriger Stimme, während sie versuchte erneut einen schwarzen Käfer aus der Armbeuge zu wischen.
„Es tut mir leid Frau Walder. Alles wird gut. Bitte kommen Sie mit und es wird sich klären.” Dr. Hinterseer reichte Maria seine Hand, welche diese, nun sprachlos, ergriff. Nach einem kurzen Nicken griff er auch nach Charlottes Arm.
„Charlotte bitte begleite meine Gäste hinaus und geh nicht zu weit; wir müssen noch reden!”
„Hatte mich schon gewundert, wann du dich mir endlich persönlich entgegenstellst, Vater.”, stieß Charlotte hervor und die Hände des Doktors davon.
Maria wurde schwarz vor Augen.
***
Und ich liege hier nun wieder… am Boden, im Nassen…. verdorre ertrinkend… beobachtet… allein… hilflos… nutzlos… und bitte nur immer um Verzeihung.
„Mit Sonnenschein im Herzen”
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Der Stuhl auf dem Charlotte saß, war kaum härter als der Blick, unter welchem sie versuchte standhaft zu bleiben.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?”, brummte ihr Gegenüber und setze ohne auf eine Antwort zu warten nach: „Hast du überhaupt gedacht, verdammt?” Sie hatte Maria nur helfen wollen, „dafür brauchte ich aber erstmal ihr Vertrauen! Sonst hätte sie mir, einer Patientin, doch nie geglaubt, dass sie ernste Probleme hat!”
Während Marias Aussetzer im Park war Charlotte schnell klar geworden, dass diese unter starken Wahrnehmungsstörungen litt, aber auch dass sie sich derer nicht bewusst war. „Es war ein kalkuliertes Risiko!”, beteuerte Charlotte dem Rücken ihres Vaters, da dieser sich inzwischen kopfschüttelnd abgewandt hatte.
„An deine Risikoweinschätzung erinnere ich mich nur zu gut; glaub mir. Du hättest mich gleich aufsuchen müssen… Was wolltest du beweisen? Hast du denn nichts dazu gelernt oder ist es dir egal?”
Charlotte wollte diese Fragen nicht beantworten, denn ihr war klar, dass nichts, was sie jetzt noch sagen könnte, verhindern würde, dass nicht nur Maria, sondern auch sie selbst auf unbestimmte Zeit nicht mehr aus der Klinik herauskäme.
„Was wird jetzt aus Maria?”, fragte sie schließlich zögernd.
„Frau Walder muss sich jetzt erst einmal erholen. Ich habe eine frühere Kollegin von mir angefordert, welche beurteilen kann, welche Umstände zu ihrem Zusammenbruch geführt haben und ob möglicherweise eine andere Grunderkrankung der Wahrnehmungsstörungen vorausgeht. Sie wird ihr hoffentlich auch dabei helfen können einen guten Weg für sich zu finden und auch mögliche Zukunftsaussichten zu planen. Selbst wenn sich herausstellt, dass eine schizophrene Störung vorliegt, lässt sich diese heutzutage gut behandeln. “
„Ich möchte sie besuchen…“, unterbrach Charlotte ihren Vater, welcher sich ihr mit vor Überraschung erhobenen Brauen wieder zugewandt hatte, „… Ich mag sie!“
„Wenn Frau Walder es wünscht. Sie kann eine echte Freundin jetzt mehr als gebrauchen“ Die Emphase lag auf dem Wort „echte“, was der zustimmend nickenden Charlotte nicht entgangen war. Mit einem Blick, der sie fast zu durchbohren drohte, fuhr er fort:
„Egal, was Frau Walder auch erwarten wird, ein geregelter Ablauf und Unterstützung sind ab jetzt für sie das Wichtigste. Sie muss lernen, dass sich das Unkontrollierbare nun mal nicht kontrollieren lässt und darf weder sich noch andere dafür nicht bestrafen.
Das gleiche gilt auch für dich!”
***
Die kleine schwarze-weiße Katze, welche sich auf einer Fensterbank bis eben gesonnt hatte und von lauten Stimmen aufgeschreckt wurden war, zog sich, nach einer kleinen Abschiedsrunde durch den Privatgarten des Haus Instenburgs, in Richtung Stadt zurück.
Eatrich war mittlerweile vollständig raus-geputzt für das anstehende Stadtfest und erstrahlte so nicht nur im Glanz der Sonne, die nun endlich ungestört am wolkenlosen Himmel ruhte.
Der Regen des Vortages schien vergessen und so hatte man auch den Pavillon wieder abgebaut. Es waren nur kleinere Pfützen geblieben, die das Kätzchen über die gestellten Tische und Tafeln zu umwandern wusste, während es über den, mit Ballons und herbstlichen Gestecken, geschmückten Marktplatz lief.
Wie üblich trieb es sie in den Ostteil der Stadt, vorbei an Einfamilienhäusern, dem Spielplatz, durch die Mehrfamiliensiedlung bis hin zur Residenz zur Ruhe, wo bereits die neueste Ausgabe der Tagespresse auslag.
Der Leitartikel preiste das Fest zur Ehrung Eatrichs im „Gartenfreund-Wettbewerb“ des Landkreises an. Denn „nicht nur wurden die prämierten Kürbisse, Zucchini und Marmeladensorten lobend in den Nachbargemeinden erwähnt, unser heißgeliebter Cidre erreichte sogar den dritten Platz!” Selbst der Bürgermeister würde für das Sonderstadtfest extra aus dem Urlaub zurückkehren, hieß es weiterhin.
In einem kleinen Artikel wurde über das voreilige Fällen von Urteilen gewarnt, schließlich „könnte es jeden treffen und Langzeitschäden dürften nie unterschätzt werden.” Die letzten Zeilen richteten sich an Bernhard Wagner, dem somit eine öffentliche Entschuldigung „für mögliche Umstände” ausgesprochen wurde sowie viel Erfolg weiterhin und einen guten Start im zukünftigen neuen Zuhause. „Eatrichs Nachbarschaft wird dich vermissen!”
Die Ankündigung über einen Eigentümerwechsel im Teehaus schloss sich daran an und im Anzeigenteil suchte das Haus Instenburg nach neuen Mitarbeitern für die internistische Abteilung.
Die abschließenden Seiten widmeten sich den „neuesten Abenteuern der Rühlich-Knaben”, welche von ihrem „Spontanbesuch in der großen Stadt” bei deren Vater berichteten.
Aber all das interessierte die kleine schwarz-weiße Katze nur insofern, dass sich die Zeitung wunderbar zum Schärfen ihrer Krallen eignete.
„Tilli!”, der streng klingende Ausruf ihres Namens ließ das Kätzchen innehalten.
„Na wenigstens du hast einen Nutzen für das sinnfreie Wurschtblatt gefunden.” Der Tonfall war nun deutlich entspannter und untermalt vom amüsierten Zwinkern Rubys, als diese sie auf ihren Schoß beförderte und zu streicheln begann.
Nach einem deutlichen, wenn auch nicht minder belustigten, Räuspern von Elke setzte Ruby gespielt ernst nach: „Sinnfrei mit Ausnahme der gestrigen Ausgabe natürlich.”
„Natürlich!”, unterstrich Elke, während sie für die beiden Frauen Tee aufgoss.
Epilog
Strahlend, ja fast schon blendend, ergoss sich das Sonnenlicht über die gepflegten Straßen Eatrichs; nichts erinnerte mehr an die Verschlafenheit der nebelverhangenen und verregneten letzten paar Tage.
Das groß angekündigte Stadtfest schien bereits im vollen Gange, da Musik, Gelächter und der schwere Duft von Backwaren in der Luft lagen und Charlotte, welche von ihrem Vater begleitet den Marktplatz betrat, begrüßten.
Geschäftiges Treiben, knallbunte Dekoration, kostümierte Menschen; seliges Miteinander.
„Mein Gott, diese Stadt wirkt wie aus einem Roman entsprungen!”, brummte ihr Vater in sich hinein.
„Ja.”, legte Charlotte nach, „Stellt sich nur noch die Frage, in welches Genre einordnen?”
Der kurze Moment der Einigkeit wurde harsch unterbrochen als zwei Jungen auf sie zu stürzten und versuchten Charlotte in ihre Arme zu schließen. „Na ihr Beiden. Hat sich euer Vater über den Besuch gefreut?” Klebrige Finger hielten sich an ihrem Rock, Kinderköpfe nickten ihr aufgeregt zu, durch ihr breites Grinsen lugten Zahnlücken… bis schließlich zwei Hände und ein strenger Blick die Knaben bestimmend davonzog.
Ja, der Augenblick der Einigkeit und Zustimmung ihres Vaters war verflogen und nur noch Dr. Hinterseer, mit seinen allwissenden Gesichtszügen stierte sie kopfschüttelnd an. „Ich war ihnen am Bahnhof begegnet. Konnte ich ahnen, dass sich die Jungs direkt in den nächsten Zug setzen?”, fragte Charlotte niemand bestimmten, denn ihr Vater war schon in der Menge verschwunden.
Die wachsamen Kameraaugen des Marktplatzes und bedeutenden Blicke der unablässig freundlich lächelnden Nachbarn sahen auf Charlotte herab, als diese, wissend, dass die Zeit der unbeaufsichtigten Wanderungen nun vorbei war, ihre Lippen zusammenbiss, um sich nun ebenfalls unter den Menschen zu verlieren; in der Menge aufzulösen, wie einst im Nebel.
Ende

