Lass doch die Fruchtfliege, Fruchtfliege sein_erinnern an eine Jugendzeit

Viele großartige Bücher beginnen mit einem Zitat.

Wobei dann meist einem angesehenen Menschen mit seinen ebenso ansehenswerten Aussagen gehuldigt wird.

Um also meine Großmutter zu zitieren: „Morgen fangen wieder hundert Tage an.“

die erste Party

Wenn man Fünfzehn ist, gerade erst einem Jugendverein beigetreten – man sollte wohl sagen „wurde“, denn wirklich freiwillig, trat ich dem JugendRotKreuz damals nicht bei – und die erste richtige Party ins Haus steht, so ist man voller Erwartungen.

Erwartungen über das wer und wie und was…und natürlich darüber, ob das nun endlich die alles entscheidende Leben verändernde Erfahrung wird, von der sicher jeder Teenager träumt.

Nein, nicht gleich wilder Sex auf dem Männerklo, sondern natürlich irgendwas spirituelles, etwas Aussagekräftiges, etwas, an das man sich auch Jahre später noch wohlwollend zurückerinnern kann.

Vermutlich ziehen die meisten Jugendlichen in dem Alter doch das mit dem Sex vor.

Ehrlicherweise sollte an dieser Stelle noch erwähnt werden, dass trotz meines stets alles überragenden Anspruchs an mich selbst, etwas Besonderes zu sein, irgendwie anders als alle anderen, vielleicht sogar besser, weil doch immerhin tiefgründig, hätte auch ich die Nummer mit dem Sex allem spirituellem Tiefgang vorgezogen.

Aber das hätte ich damals nie zugegeben, wollte ich doch so unbedingt außergewöhnlich sein.

Was von meiner, doch recht verschwommenen, Erinnerung noch übrig blieb, waren die weniger spirituellen, aber umso schlechteren Horrorfilme, ne ziemlich üble Mischung Alkohol und der Trennungsversuch Mayas von ihrem Verehrer – der Erste von vielen.

So gegen 1Uhr an dieser viel zu warmen Januarnacht des Milleniumjahres kuschelte ich mich schließlich selig betrunken in meinen Schlafsack und ließ die lausige Party, Party sein. Wäre nicht ein hacke dichter, leider nur noch Unterhosen tragender Junge schwungvoll auf mich drauf gesprungen, ich hätte die nachfolgenden neun Jahre vermutlich ganz anders zugebracht…

Wie ich inzwischen aus reichlicher Erfahrung sagen kann, ist es überhaupt nicht hilfreich einem recht angetrunkenen Menschen auf den Bauch zu springen und ihn so aus seinem wohlverdienten Erholungsschlaf zu reißen – nicht dass mir danach noch mal jemand solch einen Weckgruß bereitet hätte, aber ihr wisst, was ich meine.

Auf dem Damenklo ließ ich mir die ganze Party dann noch mal durch den Kopf gehen, zweimal, wenn man’s genau nimmt, nur um dann festzustellen, dass die ganze Bande mittlerweile am pennen war.

Alle, bis auf einen sehr nüchternen, weil zu spät erschienenen, Metaller Mitte zwanzig, der mir nur einen einzigen Blick zuwarf, bevor er sich der anderen, auch noch nüchternen, weil damals Antialkoholikerin, Person zuwandte, auf die er, wie ich später erfuhr, ein Auge geworfen hatte.

Nur ein einziger Blick und ich wusste genau, nur er ist dazu in der Lage meine Welt vollkommen auf den Kopf zu stellen, mich auseinanderzunehmen und Stück für Stück neu zusammenzufügen, mich mitzureißen, egal was auch passieren möge und mir das Herz zu brechen, so oft es ihm beliebt.

Nur ein einziger Blick und ich war verloren.

***

Gegen Fünf in der Frühe suchte ich schließlich annährend nüchtern das Weite, zu peinlich war mir die Situation und natürlich der Geruch, den ich sicher ausdünstete nach all der Kotzerei.

Auf meinem Rückweg begegnete ich noch einer recht angeheiterten, allem Anschein nach rechtsradikal gerichteten Truppe, in schönster „komm mir zu nah und du siehst, was du davon hast“ Stimmung. Da ich zu der Zeit nur noch in abgerissenen, knallbunten Klamotten mit „Anarchie“aufnähern rumrannte, verzog ich mich wohlweislich erstmal in eine gerade aufmachende Bäckerei und lächelte die Verkäuferin unschuldig mit glasigen Augen an.

Ich erwähne das nur, da das nicht nur meine erste Party war, sondern auch das erste Mal, dass ich angetrunken zu Fuß durch Berlin wanderte, um mitten in der Nacht nachhause zu kommen. Damals wusste ich noch nicht, dass das eine der unliebsamen Nebenerscheinungen vom „wilden“ Teenagerleben sein würde.

Zuhause eingetroffen, beglückwünschten mich meine Eltern zur ersten richtigen Party; sie waren sicher nicht davon ausgegangenen, dass dies nicht auch die letzte gewesen war, denn mit jedem Mal, da ich dann wieder noch halb betrunken nachhause kam, wurden ihre Gesichter länger und die Worte lauter.

Tja, ihr kleines Mäuschen steckte nun tief in den Fängen der Pubertät und würde zu einer Fremden werden…

tanzen

Es ist windig draußen, die ersten warmen Frühlingstage dieses Jahr und endlich fühle ich wieder dieses Prickeln auf der Haut, spüre die Wärme zurückkehren und weiß, der Winter ist vorbei.

Der doch leicht verstörenden Musik lauschend, erhole ich mich nur langsam von der letzten Mahlzeit, deren Geruch noch schwer in der Luft hängt – ich sollte lüften; ich muss aufstehen, tätig werden und doch will ich nur schlafen, meine Gedanken kreisen lassen.

Sie tanzen im Raum, drehen sich zur Melodie, ja wirken wehleidig und schwermütig, wollen mich nicht loslassen, wollen dass ich mich erinnere an all das Schöne, all das Traurige und all das Schmerzliche…

***

„Ich weiß nicht….der starrt einen doch echt zu Boden! Ist dir das nicht aufgefallen? Gruselig…“, der Rest der Tirade versinkt im Honigbrötchen. Es ist einer dieser ‚sag deinen Eltern, du pennst bei mir und ich sag meinen, dass ich bei dir übernachte’ Abenden und Maya rekelt sich vergnügt kauend auf ihrer Decke. „Dem entnehme ich, der Kerl ist niedlich genug, sonst wäre er dir wohl kaum aufgefallen.“ „Hey, Anja, sag sowas nicht! Er gehört mir! Gesehen, beurteilt, versunken – meiner!“

Maya und Anja waren meine Freunde während der vergangenen Zehn Jahre, und obgleich wir uns ein wenig aus den Augen verloren haben über die Zeit, sind sie es noch immer.

Wir verbrachten damals ganze Nächte damit die Bedeutung der Welt und des Lebens zu erörtern, jedes noch so kleine Detail wollten wir verstehen; immer auf der Suche nach dem großem Ganzen, dem Sinn.

Ich glaube inzwischen haben sie diesen für sich entdeckt. Sie scheinen angekommen, erwachsen und mir bleibt nichts als sie zu beneiden, denn ich kann einfach nicht damit aufhören zu suchen, mich im Kreis zu drehen, der Melodie zu folgen, ohne zu wissen, wohin sie mich wohl leiten mag.

Nachdem ich ihm verfallen war, hatte unsere Freundschaft allerdings einiges auszuhalten; heute weiß ich, sie wollten mich nur beschützen.

Wollten verhindern, dass ich dumme Sache anstelle, die ich später bereuen könnte, wollten nicht mit ansehen, dass mich jemand verletzt, dass ich mich selbst zerstöre…tja, und wie reagiert man als Teenager angemessen auf so viel Nächstenliebe?

Genau… man hält alles dagegen was man aufbringen kann und macht stets das Gegenteil von dem was erhofft wird.

***

„Wieso tust du all das?“

„Na, ich bin einfach nur scharf auf dich!“

„Das geht mir doch auch so.“

„Ich fürchte nur, dass du da irgendwelche Hintergedanken hast.“

„Du hast mir doch oft genug erklärt, dass das nichts bringt…außerdem hatte ich genug Zeit mir alle Hintergedanken abzugewöhnen.“

„Echt?“, warme Hände wandern unter mein Shirt, fast flüsternd, stellt er diese Frage, die noch lange in meinem Hinterkopf nachzuhallen pflegte.

„Ja…“

Gesehen, beurteilt, versunken – seins!

Gierige Blicke durchbohrten mich wochenlang während unserer Bereitschaftsabende. Denn er war sich seiner vollkommen sicher vom ersten Wiedersehen an – mit der Antialkoholikerin war’s wohl nix geworden oder es war schon wieder vorbei; es hatte mich nie wirklich interessiert.

Jan war ein Alpha-Männchen und markierte sein Revier durch sein selbstsicheres Auftreten, so dass es auch wirklich niemanden je hätte einfallen mögen, mich auch nur anzusprechen.

Und wehe dem, der die Grenzen zu überschreiten wagte.

Er war ein Mann – kompromisslos, einnehmend, untreu und nicht an den Gefühlen eines Teenagers interessiert… doch ich war etwas Besonderes! Zumindest bildete ich mir das damals ein.

„Für deine Unerfahrenheit bist du sehr leidenschaftlich! Ich kenn Frauen, die haben seit Jahren Sex und sind nicht halb so leidenschaftlich wie du…“, schnell lernte ich seinen Körper kennen, ertastete mir den Weg in seine heiße, feuchte Unterhose – so stellte ich es mir in den Tropen vor…schweißgebadet, schwer atmend, suchend nach dem heiligen Gral………

„Emily! Ich esse…“

„Hey, ich bin gerade Sechzehn, da darf man solche Vergleiche ziehen.“

„Hab dich nicht so, Maya! Wusste nicht, dass dir irgendwas den Appetit verderben kann…“, leicht angewidert wirkend, stopft sich Maya den Rest ihres Brötchens hinein und spült diesen mit einem ordentlich Schluck ‚Sterni’ (Sternburg Export, aus Ostdeutschland!) hinunter.

Okay, ich hätte es wohl für mich behalten sollen, verschlossen zwischen den Seiten meiner Tagebücher, um diese Beziehung für mich selbst zu ergründen, so wie alles andere. Doch obgleich mir das Schreiben stets geholfen hat, trug ich mein Herz schon als Kind immer direkt auf der Zunge und damit so ziemlich jeden Gedanken in die Welt, ohne mögliche Konsequenzen allzu lange zu bedenken.

Natürlich konnte ich auch ihm gegenüber nicht die Klappe halten, was oft genug zu einigen unschönen Tagen ohne ihn führte.

In den Pausen, die wir zum Luftholen einlegten – ineinander versunken auf dem Fahrersitz mit Aussicht auf ein Rapsfeld  (unser Lieblingsparkplatz, nachdem mein Vater einmal nichts besseres zu tun gehabt hatte, als höflich, aber bestimmt ans Fenster der Frontscheibe zu klopfen; tja, direkt vor dem Haus zu parken, war auch nicht besonders clever), nahm Jan mir letztlich das Versprechen ab, ihm selbst in meinen Bücher einen anderen Namen zu geben. Und das tat ich letztlich auch.

Unfähig so ganz auf die Meinung meiner besten Freunde zu verzichten, begann ich die paar Impressionen, die ich ihnen lieferte eben mit: „Wir sind nur noch Freunde, aber wäre es nicht geil, wenn…“

Heute weiß ich, dass sie mir die Nummer mit der reinen Freundschaft zu Jan tatsächlich abgenommen haben. Zumindest haben sie das vor geraumer Zeit behauptet. Es fällt mir etwas schwer das zu glauben, aber schließlich hört der Mensch eh nur das, was er hören will. Es ist letztlich auch nicht von Belang, ob sie zwischen Jan und mir ein unschuldiges Freundschaftsverhältnis gesehen haben oder nicht.

Denn die Wahrheit ist, dass wir sehr viel länger gebraucht haben, um Freunde zu werden, als es benötigte uns gegenseitig das Hirn heraus zu vögeln!

Wir sind irgendwann Freunde geworden – sehr gute sogar. Doch es hat bestimmt vier oder fünf Jahre gedauert, bis aus der Lust und dem Mitleid füreinander echte Freundschaft wachsen konnte… vorher herrschte: ‚das Notnagelprinzip’.

das erste Mal

Es ist Nacht – Vollmond… jeder kennt wohl den Ausspruch ‚mondsüchtig zu sein‘. Ich bin es!

Und so verfasste ich ganze Gedichte, suchte Gleichnisse, folgte seinem Anblick die halbe Nacht und schien den Mond jedes Mal aufs Neue zu entdecken. Nichts konnte je etwas an meiner kindlichen Faszination für ihn ändern; auch nicht das Älterwerden. Es ist fast so, als erblicke ich ihn stets zum ersten Mal…

***

Als Kind ist alles neu und aufregend und hat man das Glück in halbwegs behüteten Verhältnissen aufzuwachsen, erscheint einem die Welt – die Blase, in der man vor sich hinträumt – als unendlich. Man fühlt sich beschützt und obwohl ich selbst im Kindergarten fast überall und an jedem anzuecken schien, wusste ich alles würde gut und schön werden, denn ich wurde geliebt… als Jugendlicher, hingegen, erkennt man nichts mehr wieder, vor allem nicht sich selbst.

Im Inneren beginnt alles zu schreien, es gibt keine Wahrheit, keine Hoffnung – nur noch Feinde, Begierden, Verzweiflung und seltsame, alles mitreißende Gefühlswallungen.

Und nur eins ist klar, niemand hat auch nur die geringste Ahnung, wie es einem geht – du selbst bist der Mittelpunkt des Universums!

Das Irre ist, hat man diese Zeit irgendwann überwunden, dann vergisst man sie schlicht. Und begegnet einem nun so ein junger Mensch, dann schüttelt man nur den Kopf und kann einfach nicht nachvollziehen, was wohl in dessen Hirn vorgehen muss – so hat man sich doch bestimmt nie benommen!

Glaubt mir Freunde – wir alle haben uns mal so benommen und ich für meinen Teil war erschrocken, was mir so alles an Wirklichkeit verborgen blieb auf meiner verzweifelten Suche nach den vielen ersten Malen, nach denen man sich anfangs so verzehrt…

***

Mit Jan durfte ich einige erste Male erleben – der erste Sex gehörte nicht dazu!

Und wie bei vermutlich vielen Teenies ist dieser auch nicht besonders erwähnenswert als Jugenderinnerung: ich war notgeil, gelangweilt und genervt… da Jan mich anfangs doch tatsächlich zu gern hatte, um mir zu schlafen; also griff ich mir den Erstbesten, der mir über den Weg lief.

Das heißt, während einer Rotkreuzweiterbildung neben mir saß und mich nicht allzu sehr abstieß. Er merkte schnell, dass ich noch Jungfrau war und man kann sagen, benahm sich wie ein Gentleman – es war ne Riesendummheit, von der auch wirklich niemand begeistert war, als es so langsam die Runde machte im Freundes – und Familienkreis.

Ich bereue es trotzdem nicht; hab bekommen, was ich wollte, er war lieb und ich musste ihn nicht wiedersehen.

Also, was soll’s…

Das erschien mir stets ein gutes Motto… also, was soll’s…

ob ich mich völlig betrunken in irgendeiner Ecke wiederfand, ob ich mit von Tränen geröteten Augen in die Dunkelheit starrte oder verwirrt und wütend wie blind durch die Straßen der Hauptstand rannte… also, was soll’s schon, wenn das Leben dir nur allzu gern den Mittelfinger entgegenstreckt und du trotzdem stur, wie du nunmal bist, nicht ans Aufgeben denkst.

Ja, Jan und ich erlebten einige erste Male und nicht alle waren schön oder lustig…

Doch damals wie heute ist er der erste Mensch an den ich denke, wenn ich aufwache und der letzte, bevor mich endlich der Schlaf erreicht.

***

Inzwischen zählen wir irgendeinen Tag im Mai – sollte es nicht warm und sonnig sein?

Ich kann mich nicht erinnern… der trübe Morgen schmerzt mir in den Augen, im Leib noch die vergangene Nacht… Zuviel Bier, noch mehr Gras und eine brodelnde Wut, die mich schon immer in Schwierigkeiten brachte… was stets bleibt, ist die Flucht in die Dunkelheit.

Denn wie will man auch Dinge bereuen, die man kaum mehr wahrgenommen hat?

***

Als ich etwa Sechszehn war und die sich nun bereits Jahre hinziehende Trennung meiner Eltern ihren Höhepunkt zu erreichen schien – mein Vater hatte zu unser aller Unglück nicht nur ein Leben gelebt, war nicht nur in einer Familie zuhause gewesen – flüchtete ich mich erstmals in die Nacht, in den Alkohol und zu Jan.

Es war nicht so, dass er mir den Halt bieten konnte, nach dem ich mich so verzweifelt sehnte, doch ich fand Ablenkung. Und verbrannte ich mir auch die Finger Nacht für Nacht, wenn ich von Wut geleitet, leidenschaftlich, wie er es nannte, seinen Körper ergründete; ihn im Schutz der geliebten Dunkelheit zum Rand der Ekstase und darüber hinaus trieb, so fand ich doch zumindest für einen Augenblick Ruhe, Entspannung und manchmal sogar das Gefühl geliebt zu werden…

„Emily, das ist Chris! Er war früher mit Anja und mir in einer Klasse… ein ganz lieber Kerl.“, das Ende flüsterte mir Maya nur verstohlen zu.

…Zwinker, zwinker…

„Hey du.“

„Hey, schön dich kennen zu lernen; hab schon viel von dir gehört.“

„Gut zu wissen, da haste mir ja einiges voraus. Ehm… Chris. Magste ’n Sterni? Wir wollten grad ne Runde schaukeln gehen im Mauerpark; kannst uns gern Gesellschaft leisten.“

Schaukeln und Sterni im Mauerpark – ein guter Freitagabend! Samstag hieß es meist ein paar Biere mehr und Pogen beim Konzi!

Dafür schien der gute Chris allerdings nicht so ganz geeignet, wie so viele, von den „lieben Kerlen“, die Anja und Maya mir damals anschleppten, nachdem ich mich in Jan, dem „nicht ganz so lieben Kerl“ verloren hatte.

Subtil waren die beiden wirklich nicht und so führten wir eben erwähntes Vorstellungsgespräch des Öfteren – meist mit dem Ergebnis letztlich in unsrer Weiberrunde zu sitzen, Junkfood zu spachteln und den Sonnenuntergang zu genießen.

„Okay, irgendwann musst du mir mal erklären, wie du sämtliche Typen dazu kriegst so schnell aufzugeben?! Ich meine, die fressen dir von Anfang an aus der Hand und dann…“, wieder Maya, doch diesmal stopft sie Pommes in sich hinein.

„Die Kunst ist, herauszukriegen, was sie echt schockt oder abnervt, manchmal auch einfach nur langweilt und ihnen dann das Gefühl zu vermitteln, sie würden dir nen Korb geben – ihr Ego bleibt erhalten und du hast erreicht, was du wolltest, ohne der Arsch zu sein.“

„Du bist oft genug der Arsch, warum stört es dich bei so was?“

„Danke Anja, ich hab dich auch lieb… ich dachte, dass wär dein Motto: Arschloch und Spaß dabei!“

„Siehste, genau das meinte ich!“

Bei uns lief es immer so ab, in unserer hochphilosophischen Art dachten wir: besser ehrlich, als bald nur noch hinterhältig, wie es angeblich so oft in Frauenfreundschaften laufen soll. Hey, und wir sind heute noch befreundet…

Diese sanfte Form der Abfuhr war damals tatsächlich meine übliche Taktik im Umgang mit dem anderen Geschlecht und meist trug sie Früchte.

Beispielsweise ging ich ein paar Mal mit einem Kumpel meines Bruders aus. Er war ein Technofreak (ich liebe es zu tanzen, ganz gleich zu welcher Musik, doch mit Techno wurde ich nicht warm; hab wohl nie die passenden Drogen geschmissen) und seine Küsse schmeckten nach Asche, obwohl er nicht rauchte. Um ihn schließlich wieder loszuwerden, warf ich mich in mein schönstes Gothikoutfit und erzählte so viel Mist, dass mein Bruder später zu mir meinte, dass das das schlimmste Date gewesen war, welches sein Kumpel bis dato gehabt hatte. Gut, ich war wohl leicht übers Ziel hinausgeschossen, doch seine Wirkung hatte es nicht verfehlt.

„Irgendwo gibt’s bestimmt die eine geeignete Freundin für die Jungs, da muss ich ja nicht gleich dafür sorgen, dass die sich dann nicht mehr trauen, wenn’s tatsächlich passen könnte. Ich bin vielleicht manchmal ein Arsch, aber niemand hat’s verdient unnötig verletzt zu werden!“

Oh, oh…die beiden legten praktisch synchron die Stirn in Falten und wollten zum simultanen „und hast du es denn?“ ansetzen, was ich schon zur Genüge kannte.

Mein Handy rettete mich diesmal davor. Es rief mich zurück in mein Leben, nachhause, zurück zu den bebenden Wänden, den sich stets im Kreis drehenden Wortgefechten und trieb mich direkt weiter in seine Arme.

„Bitte, bitte. Ich kann noch nicht dahin! Hast du nicht Zeit?“ – lange Pause –

„Aber nur ’ne Stunde.“

„Das reicht mir…“

„Dann kommt meine Freundin, also mach hinne!“

***

Was ich auch erst wirklich durch Jan lernte, war, dass sich der Mensch viel mehr antut (antun lässt), als er wohl verkraften kann. Ganz gleich, wie oft dir dein Herz bricht – es gibt immer noch Luft nach oben, selbst wenn sie einem fast wegbleibt!

Es erscheint einem erst wie ein unaufhörlicher Schmerz, bis letztlich und endlich die heilende Gleichgültigkeit einsetzt… einen innerlich zerfrisst, ohne dass man es  wirklich bewusst wahrnimmt.

„Ich möchte dich behalten!“, Jans Antwort war Schweigen und so lagen wir noch eine Weile auf dem Rasen vorm Berliner Dom. Ich wagte es nicht ihn anzusehen, zog mich in mein Schneckenhaus zurück und sprach nicht weiter davon.

Wir kannten uns schon Jahre bevor ich überhaupt anfing meine Gefühle zu äußern und immer endete es in Schweigen oder mitleidvollen Versprechungen – je nach Alkoholpegel.

Aus heutiger Sicht erscheint mir diese ständige Flucht nach vorn in eine zum Teil noch frustrierender erscheinende, schmerzlichere Situation meiner Jugendzeit natürlich als blauäugig und dumm, aber es war wohl das, was im allgemeinen von pubertierenden Menschenkindern erwartet wird und ich würde vermutlich immer wieder so handeln. Denn schon während ich noch in diesem Alter war, wusste ich, wie irrgläubig in manchen Situationen die Hoffnung auf ein Happy End ist und doch machte ich weiter.

Und ich bin überzeugt, dass es vielen so ergangen ist und ergeht, unabhängig vom Alter, denn wer ist schon gefeit vor der brüllenden Sehnsucht, dem Kribbeln unter der Haut, der bloßen Idee, dass alles einst gut werden wird?

Und wie heißt ganz richtig: solange man sich noch gerne im Spiegel betrachtet, hat man wohl nicht alles falsch gemacht!

ich war auch mal verliebt

Wir heirateten sogar… Gut, das war im Alter von Zwölf, doch den Ehering habe ich immer noch… er hieß Peter, beide wuchsen wir im Prenzl’Berg auf und als wir gerade Zehn waren, begann er mir Briefe zu schreiben; es waren Liebesschwüre voller Rechtschreibfehler und doch romantischer als alles, was ich später so von den Kerlen bekam – die ‚Unruhe’ von ihm hängt heute noch an meinem Fenster und lässt mich bei jedem Windstoß an ihn denken.

Ich weiß noch, dass wir öfter über die Hinterhöfe gezogen sind, ihre zugewachsenen „Urwälder“ durchkämmten, über „Ruinen“ vergangener Generationen kletterten und dass das ‚Rantreten an die Dachvorsprünge (ging bestimmt zwei, drei Meter in die Tiefe) unsere Mutproben waren. Wir waren eben Großstadtkinder und da Muttern es nicht gern sah, wenn ich mich zu weit von zuhause entfernte, bewegten wir uns zwischen der alten Senefelder und dem Helmholtzplatz.

Wenn man’s genau nimmt, durfte ich nicht mal das (inzwischen weiß ich auch weshalb: 1989 wurde ein kleiner Junge nur zwei Straßen von unsrer Wohnung entfernt, umgebracht), doch irgendwie schaffte ich es nach den nachmittäglichen Kontrollanrufen meiner Mutter, ob ich auch gut den Fünfminutenweg von der Schule zurückgefunden habe, unbemerkt wieder loszuziehen in kleine bis mittlere Abenteuer und fast immer auch zum Helmholtzplatz.

Hach der Helmi; ein irgendwie geschichtsträchtiger Ort. Als ich noch klein war, konnte man ihn noch ohne Frage als Spielplatz bezeichnen, später wurde der Platz zum Stricher- und Fixertreff und mittlerweile ist es ein Kulturknotenpunkt, an welchem sich Studenten, Yuppie-Muttis und Künstler versammeln – ach ja, ein Klettergerüst gibt’s auch immer noch… selbst Jan und ich waren dort eines Nachts schaukeln, bevor wir in den „Duncker“ zum alldonnerstäglichen, kostenlosen Konzert (welches es heutzutage auch noch gibt, also ab mit euch…. nein, das ist keine Werbung und ich werde auch nie einen Heller dafür sehen) zogen.

***

Eine Sache, die Jan und ich gemein haben, ist unsere Untreue, unsere Unfähigkeit mit nur einem Menschen vollkommen zufrieden zu sein.

Ist es das Ego oder trafen wir nur nie den richtigen Menschen?

Sicherlich ist selbst Untreue eine Definitionssache, fängt sie bereits beim ersten Gedanken an, beim Fremdküssen, beim Fummeln oder erst beim Sex…

Im Übrigen ein interessantes Gesprächsthema, möchte man gesellschaftliche und mediale Einflüsse ergründen. Denn wie jeder Einzelne ‚Untreue’ (nicht nur in einer Beziehung, sondern allgemein in Freundschaften, beruflichem Alltag etc.) definiert, hängt ja sehr von seiner Erziehung und natürlich den späteren Umwelteinflüssen ab, von den Vorbildern, den Erfahrungen, der eigenen Einstellung.

Streng genommen, war ich also bereits Peter untreu, denn ist es wirklich Liebe küsst du gleich nach der Verabschiedung den Nächsten?

Damals war ich mir jedenfalls nicht bewusst etwas Falsches getan zu haben und inzwischen kann ich es nicht mehr recht beurteilen…

Ich fürchte sogar, dass ich ziemlich zynisch geworden bin. Nur wage kann ich mich an eine Zeit erinnern, da war ich ein kleiner Romantiker, sehnte mich nach Zuneigung und hatte vor allem keinerlei Probleme damit diese selbst zu äußern.

Und mittlerweile? Ich traue grundsätzlich niemanden oder ihnen erstmal alles zu.

Aber bitte, lasst euch von mir und meinen Erfahrungen, meinen Entscheidungen nicht abschrecken! Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Und oh wie gerne ich trotz all meiner Kopflastigkeit geküsst werde, ganz gleich wie weit ich letztlich mit den Männern oder Jungen gegangen bin, die mein Interesse wecken konnten, geküsst hab ich sie alle, denn wie dich jemand küsst, verrät dir so viel, wenn nicht sogar alles über ihn.

Von scheu und unerfahren, über hektisch und aufdringlich bis selbstbewusst und mich zum Träumen bringend, war alles dabei… Küssen kann so vieles sein… ein Hallo, eine Einladung, ein Sich-Vergessen.

Und küssen ist das einzig, tatsächlich romantische beim Sex.

„Was ist daran“ Jan stößt ein paar Mal heftig in mich „bitte romantisch?“, will er von mir wissen.

Nein, Sex selbst ist sicher nicht romantisch, aber die Augenblicke hinterher können es sein und das war auch die Antwort auf seine Frage vor all diesen Jahren.

***

Das Peter und ich schließlich getrennte Wege gingen, war unserem Wegzug aus dem Prenzlauer Berg zu verschulden und der Tatsache, dass ich es nie gelernt habe Kontakte zu halten.

Auch heute noch muss ich um jeden Anruf, jede Email kämpfen; muss ich mich zwingen die Menschen, die ich einst lieb gewonnen habe nicht einfach zurückzulassen und zu vergessen.

Tja, das ist wohl ein eher allgemeines Problem der Leute, denn wie oft habt ihr nicht schon davor zurückgeschreckt einen alten Bekannten oder guten Freund anzurufen, ihm zu schreiben – und warum? Aus Angst ihr könnten nerven? Das ist lächerlich! Liebe Leser lasst euch von solchen Ängsten nicht abhalten Freundschaften auch über längere Entfernung zu pflegen, denn irgendwann kommt immer der Moment des Vergessens und des ‚Sich-Nicht-Wiedererkennens‘ und dieser sollte doch so weit wie nur irgend möglich hinausgezögert werden.

Traum ohne Stern

Regen – seicht bis in Fluten, kurz bis endlos. Sich im Wind verwirbelnd, mich umschließend, einhüllend, über die Ufer tretend, in Keller fließend, zerstörend – unaufhaltsam.

Ich liebe dieses Wetter, besonders wenn es unverhofft und in Strömen gießt und du innerhalb weniger Minuten komplett durchgeweicht wirst – Regen treibt mich an, zum Laufen und schallend Lachen.

Wie irre kreischend, das kleine Kind in mir in höchster Verzückung, gewahr der Erkenntnis, dass es dabei fast immer allein, aber nie einsam ist!

***

„Merkt ihr eigentlich was ihr da redet? Ihr seid Idioten! Seit ’ner Stunde schreit und diskutiert ihr komplett aneinander vorbei! Vatern geht’s um finanzielle Sicherheit und dir um Gefühle. Da gibt es keinen gemeinsamen Nenner.“

Irgendwann fing ich an mich einzumischen und wurde prompt zum Vermittler zwischen den verhärteten Fronten erklärt.

Als Übersetzer verschiedener Sprachen und als Tochter, die seit diesem Augenblick fürs Scherben aufsammeln und wiederzusammensetzen zuständig war.

Man könnte es vielleicht als ersten Schritt zum Erwachsenwerden betrachten – meine Pflicht zu leben, um meine Eltern am Leben und bei Verstand zu halten…

„Du warst früher so verschmust. Was ist denn nur mit passiert?“

„Ich kann mich daran nicht erinnern, Muttern!“

Es tut mir heute noch leid, wie viel Überwindung ich aufbringen muss, um die mir lieb gewonnenen Menschen oder auch jeden anderen auch nur in den Arm zu nehmen, geschweige denn mich berühren zu lassen (was funktioniert, ist dass, was ich kenne – alkoholgeschwängerte Augenblicke im Mantel der Dunkelheit…jede Berührung verliert dort an Bedeutung, die Menschen verschwimmen und alles wird unwichtig).

Alles, was ich vor Augen hab, ist die eine Nacht (und die, die noch folgten), in der ich meine Mutter fand als sie mit einem Berg Tabletten vor einem Rotweinglas saß… wie sie in Verzweiflung an meiner Schulter versank, flehend, ich möge es irgendwie wieder gutmachen und mich Tags darauf eine Patientenverfügung unterschreiben ließ, die Wiederbelebung verbieten sollte – ich war damals noch nicht ganz Achtzehn und bezweifle, dass das Schreiben somit überhaupt irgendeine Rechtsgültigkeit besaß – einen tiefen Eindruck auf mich hatte es aber hinterlassen.

„Ihr belastet mich nicht, wenn was ist, sprecht ruhig mit mir. Ich bin immer für euch da!“

Mittlerweile ist das sogar wahr.

Doch als ich im Teenageralter war, verstanden wir uns nicht mehr; erkannten nicht die Lage, in der wir steckten. Zu sehr nahm uns  unser jeweils eigenes Leben ein.

Als mein Vater schließlich auszog, zerbrach nicht nur für meine Mutter eine Welt.

Und dass Vatern am Rande des Suizids schwebte, Muttern immer mehr abmagerte (ich im Übrigen auch, doch wir beide lebten damals so sehr aneinander vorbei, dass wir uns schließlich selbst und unabhängig voneinander helfen mussten) und mein Bruder vor alldem floh, erfuhr und begriff ich erst in letzter Zeit so wirklich.

Ich versuchte damals wie heute diese Familie mit allen Mitteln zusammenzuhalten, obgleich ich mir bewusst bin, dass getrennte Wege, ruhigere, vielleicht sogar einfachere Wege wären.

***

Die Sache mit Chris entwickelte sich schnell zu einem abstrakten Selbstläufer, der erst vor kurzem ein tatsächliches Ende gefunden hat.

Ich genoss seine Gegenwart, denn er war tatsächlich ein ganz lieber Kerl; was mir sehr gut tat.

Und er mochte mich… was mich damals sehr erstaunte und diese Ungläubigkeit seinen Empfindungen gegenüber ist sicher einer der Gründe, aus denen unsere Beziehung schon endete, bevor sie wirklich losging und wir bis heute nie so recht über die Unschuld der ersten Begegnungen hinausgekommen sind.

Ja Chris mochte mich, sogar so sehr, dass er mich seinen Eltern vorstellte.

Beides Lehrer und beide sehr auf das akademische Fortkommen ihres einzigen Sohnes bedacht. Sie fanden mich sehr sympathisch (so wie die meisten Menschen bei der ersten Begegnung), doch die Schule war mir damals gleich und Zukunftspläne hatte ich keine – mein Gott, die meiste Zeit des Tages verbrachte ich mit dem Gram übers Dasein und dem Wunsch doch davor flüchten zu können.

Zu meiner Verteidigung; ich bin gut genug erzogen, um solche Informationen nicht beim ersten Treffen mit den Eltern rauszuposaunen, doch dass ich keine Vorstellungen, beruflicher Art, von meinem Leben hatte, reichte ihnen schon, um mich für unwürdig zu erachten.

Und brav, wie ihr Sohn nunmal war, hörte Chris sehr auf das, was seine Eltern sagten und damit endete nach nur wenigen Wochen und noch während der Blüte unserer Jugend – von Unschuld konnte zumindest ich damals schon nicht mehr sprechen – der erste Versuch unserer Beziehung.

***

„Hey, bist du sicher, das ist ne gute Idee?“, fragt Jan – leicht zittrig vom Alkohol, seiner Anspannung und enormen Erregung.

Nein, es war keine gute Idee, doch ich völlig dicht und so störte ich mich nicht an der Handvoll Leute, die mit uns im Kino hockten; den Tränen nahe, gebannt auf das Finale von „Herr der Ringe“ starrend.

Wie so oft in diesen Monaten saßen wir betrunken in der hintersten Reihe im Cinemaxx am Alex und schauten uns die Spätvorstellung an. Und wie so oft waren wir am fummeln, na ja, diesmal war ich am fummeln und hatte mich daran gemacht sein bestes Stück, Jochen, wie er ihn so liebvoll nannte, eines Schwertschluckers gleich in mich aufzunehmen, gewahr und gleichgültig dem Pärchen, welches sich nur zwei Sitze links von uns befand – wie bereits erwähnt, bin ich leicht angeheitert, leide ich zuweilen an akutem Anstandsverlust!

Jan hob noch seine Jacke schützend an, doch wollte sich nicht recht gehen lassen, drum verlegten wir unser kleines Stelldichein für dieses Mal aufs Behindertenklo; doch nicht ohne im zu lauten Flüsterton festzustellen, dass in unseren Augen nicht Frodo, sondern Sam der wahre Held ist!

Geschmackssache

Ich bin schon immer gerne (also seit ich etwa dreizehn Jahre alt war) auf Friedhöfen spazieren gegangen; nicht bei Nacht und Nebel als blödsinnigen Kick, sondern weil ich stets die Ruhe und die ganz eigene Schönheit dieser Gärten bewundert habe.

Ich glaube nicht, dass man es als morbide Faszination bezeichnen kann, doch für mich ist es als liefe ich durch eine Art Galerie – jedes Grab ist anders gestaltet, mal kunstvoll, mal schlicht.

Jedes ein individuelles Werk, eine Hommage an den Lieben, der dort zur Ruhe gebettet wurde…

Diesen Galerievergleich ziehe ich übrigens auch bei Häusern und Briefkästen, obgleich ich dann den Teil mit der Hommage an die verstorbenden Lieben wegzulassen pflege.

Naja, im Grunde ist ja alles Geschmackssache nicht bloß das individuelle Kunstverständnis.

Da Vinci schrieb einst über seine Faszination oder eher Ungläubigkeit darüber, dass der Mensch als Art noch nicht ausgestorben sei, wo es schließlich ein Ding der Unmöglichkeit sein sollte überhaupt an Vermehrung zu denken, bei der Unansehnlichkeit unserer primären Geschlechtsorgane.

Was soll ich sagen…Da Vinci hatte Recht! Doch wie uns die Natur und die auch weiterhin anhaltende Überbevölkerung unseres Planeten zeigen, können die meisten wohl darüber hinwegsehen.

Vielleicht macht manch einer es auch wie ich und geht beim Blowjob (ich weiß, dies dient nun nicht gerade der Vermehrung, aber wisst, was ich meine) seine Einkaufsliste nochmals durch oder nutzt die Zeit beim Geschlechtsverkehr zuweilen auch, um sich die Nachrichten anzusehen. Jetzt denkt nur nicht, dass ich nie Spaß gehabt hätte, ich bin nur leicht abzulenken und es ist nun mal nicht immer Perfektion, sondern zuweilen einfach Geschmackssache…

Frauen erschienen mir, zumindest was ihre sekundären Merkmale anbelangt, schon zu Beginn meiner Menschwerdung attraktiver.

Und tatsächlich begegnete ich auch der einen oder anderen Dame, die mich genug beeindruckte, um mich für sie zum Narren zu machen!

***

I. war die Erste, der ich gründlich verfallen war… das Irre ist, und das kann ich mir bis heute kaum erklären, dass ihr so ziemlich jeder verfallen war, der sich auch nur einmal mit ihr unterhalten hat.

Glaubt mir, ich wurde in den vergangenen zehn Jahren sehr oft Zeuge dieses unglaublichen Phänomens.

Sie strahlt eine Unschuld und zugleich eine mütterliche Fürsorge aus, dass man sich einfach nicht recht entscheiden mag, ob man sie beschützen soll oder sich von ihr in den Schlaf wiegen lassen möchte… wie gesagt, es ist irre, denn I. war bestimmt nie ein Kind von Traurigkeit und verleiht bis heute dem Ausspruch „Stille Wasser sind tief“ ganz eigene Dimensionen.

Da sie aber auch einer der nettesten Menschen ist, denen ich und sicher auch viele Andere je begegnen durften, nahm sie sich stets den armen Seelen an, welche ihr so gnadenlos verfallen waren. Denn wenn I. eins nie gelernt hat, dann „nein“ zu sagen und was sie mindestens von sich gibt, ist Zeit und ein offenes Ohr.

Ihre Form der Selbstaufopferung ist bewundernswert und doch tut sie mir unendlich leid, denn sie hat auch nie gelernt, sich jemanden wirklich zu öffnen, über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen, sich auch mal an erster Stelle zu setzen.

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J. kenne ich sogar noch länger, das heißt, kannte ich, denn inzwischen haben wir schon ein paar Jahre keinen Kontakt mehr, da sie mir vorwirft, mich an ihren Ex rangeschmissen zu haben – interessanterweise tauschten er und ich erst gut ein Jahr nachdem der Vorwurf und damit die Freundschaftskündigung aufkam Zungenküsse aus (mehr allerdings auch nie, denn der Typ dieselte sich so dermaßen ein, dass selbst seine Bude diesen Womenizer-Duft angenommen hatte und das turnte mich nun nicht gerade an).

J. könnte man wohl in die Sparte „Dumm fickt gut“ einordnen. Sie hatte ne Hammerfigur und außer Sex tatsächlich nicht viel im Hirn. Blöderweise war sie mehr eifersüchtig auf mich, als dass sie scharf gewesen wäre und so kam außer dem Dreierangebot ihres damals aktuellen Kerls nie was zustande.

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Und dann gab’s da noch K. (hach schön, eine alphabetische Reihenfolge)… als ich K. kennen lernen durfte, war ich etwa Einundzwanzig und sie gerade dabei ihre sexuelle Ausrichtung zu ergründen.

Das Mädel hatte ne leicht schizophrene Art oder vertrug einfach keinen Alkohol. Im nüchternen Zustand konnte man sie eigentlich nur als prüde bezeichnen, tja, und hatte sie was intus, hörte ich mich mehr als einmal „ich bin zu alt für diesen Scheiß“ sagen.

Ein paar Mal ließ ich mich dazu hinreißen mit ihr und einigen ihrer Kumpels auszugehen und stets endete das ganze damit das K. sich nicht so recht entscheiden mochte, wen sie eigentlich mit nachhause nehmen will, denn sie befummelte den Freund ihres damaligen Verehrers und mich, während ihr Kerl frustriert Tequila in sich hineinschüttete.

Dieses „aus den Augen aus dem Sinn“ –  Phänomen verhinderte alles Weitere… ich verkürzte meine erste Ausbildung damals und so trennten sich unsere Berührungspunkte (ich hatte ja bereits erwähnt, wie absolut schwer ich mich mit der simplen Aufgabe des Kontakthaltens tue).

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Wie ihr euch vielleicht denken könnt, gab es natürlich auch in jüngster Vergangenheit eine Frau, die es mir reichlich angetan hatte… ich scheine mich einfach nicht dagegen wehren zu können.

L. (ich kenne ihren Namen ehrlich gesagt nicht, aber irgendwie hat’s mir auch das Alphabet angetan) ist so ziemlich das niedlichste Gothikmädchen, das ich je getroffen habe und wohl auch das netteste, denn ohne mich überhaupt zu kennen, lud sie mich zu ’ner Party der Parallelklasse ein – bin gerade dabei meine zweite Ausbildung zu machen – und von diesem Moment an warf sie mir jedes Mal, wenn wir uns im Schulflur begegneten, ein Lächeln zu, dass ich in die Knie gehen mochte.

…Inzwischen hat sie sich ihre Haare strohblond gefärbt und damit jedem Reiz für mich verloren… klingt oberflächlich, ist es sicher auch…

Punk ist

Ein Sommerregen – schwere Luft, erfüllt vom Duft des Waldes.

Ich würde gern weinen… seit der Diagnose fällt mir alles sehr schwer, interessanterweise gehört weinen auch dazu.

Ich war schon immer nah am Wasser gebaut, eigentlich stand ich praktisch direkt im Teich und es genügte selbst die kleinste Brise und Tränen rannen mir ungehalten übers Gesicht.

Es hat genervt; es hat geholfen…

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„Du musst es einfach nur sagen und ich tu’s nicht.“

„Okay, tu’s nicht! Ich will dich nicht teilen.“

„Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem ich dich nicht mehr teilen muss, sag bescheid… so in drei, vier, acht Jahren.“

„Dann bleiben uns doch immer noch zwanzig Jahre.“

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Der Begriff „Punk“ stammt aus dem englischen und bedeutet laut Fremdwörterlexikon soviel wie aggressiv-monotone Rockmusik zu zynischen Texten, deren Anhänger in greller Aufmachung auftreten… jupp, kann ich so unterschreiben.

Meine Mutter erzählte mir neulich, dass sie angesichts unserer finanziellen Situation eigentlich immer recht froh war, dass sie so ein anspruchsloses Kind hatte, welches sich so gar nicht für Klamotten und dergleichen interessierten wollte. In der Punk-Szene unterwegs zu sein, half sicher bei meiner Wahl von modischem Schick.

Die Betonung liegt hierbei auf „eigentlich recht“, denn natürlich wollte sie so gern ein „richtiges Mädchen“ und versuchte mich auch des Öfteren erfolglos neu einzukleiden, was verständlicherweise zu einigen Spannungen führte. Doch seien wir mal ehrlich, es ist vollkommen egal, was du tust, als Mutter eines Teenagers hast du fast immer verloren.

Ja, sie wollte immer ein richtiges Mädchen und nun da ich letztlich so kurz vor der Dreißig doch noch darauf zusteuere, ist sie nicht mehr recht interessiert… muss mich das jetzt beleidigen?

***

„Hey, ich tanze hier!“

Es war mal wieder Samstag, stur zogen mich Anja und Maya von der Tanzfläche, sie schienen beunruhigt, ich könnte womöglich Ärger machen. Dabei war ich lediglich am Pogen (ich bin mir im Übrigen durchaus bewusst, dass die Formulierung „am etwas tun“ zwar heutzutage sehr in Mode geraten ist, aber nicht der deutschen Grammatik entspricht – aber es ist in Mode, also was soll’s), steigerte mich regelrecht in diese entspannende Form des Ausdruckstanzes hinein, als so ein Penner mir direkt in den Rücken sprang, was blieb mir als mich zu wehren?

Doch ehe ich mich versah, stand ich vor der Türe, und vernahm nur noch die verschluckten Töne der Band (unwichtig welche, wir waren auf so vielen Indikonzerten damals – alles zwischen sehr schlecht, annehmbar und geil). Sie verdarben mir wirklich viel zu häufig den Spaß!

Allerdings waren Anja und Maya nicht die einzigen Spaßverderber innerhalb meines Wirkungskreises. Ich hab es bis heute nicht ganz begriffen, warum ich überall auf Ersatzeltern zu stoßen scheine – man beschützt mich vor der Welt und mich selbst; ungefragt und ohne Vorwarnung und so bin ich noch aus jeder Scheiße heil herausgekommen.

Es nervt höllisch, amüsiert mich und macht mich dankbar.

„Was ist nur los mit dir? Hast du ’nen Sockenschuss?!“, meine Antwort erstickt im Erbrochenem…

Was ich sonst noch weiß, meine Mutter steckte mich in der Nacht mit dem Satz „nie wieder Alkohol“ ins Bett, nur um mich den Abend darauf aufs Neue losziehen zu lassen.

Ich möchte nicht behaupten, dass ich eine wilde Jugend gehabt hätte – zumindest nicht im Vergleich zu so manch Anderem – ich war einfach nur angetrieben vom verzweifelten Wunsch nach Freiheit, rastlos vor Langeweile und Weltschmerz.

***

Als ich dann etwa Achtzehn war, lernte ich Bastian kennen: Student, Punk, Perspektivloser.

Beim Konzert der „Spezial Guests“, es war eine eisige Winternacht und ich zum ersten Mal im „Schokoladen“ Prenzl’Berg (allein, denn unsre tolle Mädchenclique litt zuweilen doch leicht unter dem Krebsgeschwür, das meine Jugend darstellte), da kamen wir ins Gespräch und die Tatsache, dass wir beide ursprünglich aus dem Harz kommen, bildete die Grundlage für den nachfolgenden Flirt.

An der Bushaltestelle umklammerten wir uns mit zittrigen Fingern, wärmten unsere alkoholbetäubten Glieder und stammelten Worte des Vertrauens… selige Betrunkenheit, wie oft brachtest du mir schon Freunde, Abenteuer, Erkenntnisse…

„Die Kastanie (bin mir sicher da fehlt noch ne Zahl)“ dunkel, eng, verraucht, eng und mein erstes Hardrockkonzert. Der Frontmann überbrüllt ohne Mikro seine gesamte Band, was mich heute noch beeindruckt; vor jedem Song erklärt er den poetischen Inhalt seiner Darbietung. Was notwenidig ist, denn es klingt wirklich alles gleich: laut, Schreie, ein Hauch Verzweiflung, laut…

Ich hing in Bastians Armen und war gelangweilt.

Wir trafen uns noch einige Male und mit jedem Wort, das er sprach, lichtete sich mein jugendlich verklärter Blick von Anarchie und Chaos – er lebte in einer Wohnung größer noch als die meine jetzt, ausgestattet mit den neuesten technischen Spielereien; bezahlt von den lieben Eltern. Ja, ein waschechter Punk! Oh, wie empört war er, als ich meine Zweifel äußerte.

Als ich ihn Jahre später wieder traf, war Bastian noch immer Student, wohnte in einer WG, verschlissen und vom steten Alkoholkonsum gezeichnet, seine Küsse nach wie vor zart und einlullend, doch ich hatte inzwischen keine Zeit mehr für so viel Party und Anarchie, sah keinen Sinn darin Fahrräder anderer Leute über Brücken zu werfen und in zu lauten Clubs zu versacken – musste meine Miete bezahlen und mich aufgetakelt in Edeldissen schleifen lassen; und was glaubt ihr, wie es mir dort ging? Es war laut, eng, verraucht, eng und oh geliebte, versoffenen Poesie…

Und so betrachtete ich vieles nur von außen – fühlte mich als ewiger Zuschauer meines Lebens, weniger neugierig, als vielmehr verwirrt, ja verständnislos.

Denn wirklich verstanden habe ich sie nie – die Menschen, ihr Handeln und damit auch mich selbst.

So ließ mich die Suche, das Sehnen nach einem Sinn gegen Wände laufen – mich den Schädel blutig schlagen.

Blind und taub für so unzählig schöne Dinge und Erfahrungen.

***

Mein Bruder, der zurzeit mit Jugendlichen arbeitet oder eher arbeiten muss, heulte sich neulich bei mir aus, dass die ja alles besser wüssten und ja ach so viel Plan vom Leben und der Welt hätten… es kotzt ihn an! Er war bestimmt niemals so!

Ich konnte nur verständnisvoll nicken und breit grinsen.

Als Teeny bist du unsterblich und natürlich hast du die Weisheit mit Löffeln gefressen! Du bist ein Philosoph und alle anderen haben doch eh keine Ahnung!

***

Natürlich war ich auch auf Festivals unterwegs; bin es bis heute, obgleich ich inzwischen im Hotel nächtige, was wohl so gar nichts mehr mit Punk zu tun hat, aber zumindest dafür sorgt, dass ich wahrscheinlich zu der ausgeruhteren (nein, man kann das Wort nicht wirklich steigern; entweder ist man ausgeruht oder eben nicht… verbringt aber bitte mal einige Zeit auf Festivals, dann seht ihr, es lässt sich alles steigern) und besser riechenden Sorte Festivalbesucher gehöre… wir werden alle mal älter.

Das Festival, welches ich damals am häufigsten mit meiner Anwesenheit beglückte, war das „Force Attack“… laut, schrill, dreckig – Party!

Was ich sehr schnell begriff, obgleich ich nur einmal nicht im Backstagebereich nächtigte, willst du ein halbwegs sauberes Klo, gehe kurz nach 5uhr morgens… da war grad die Entleerung und Reinigung… ansonsten halte einen guten Alkoholpegel über den gesamten Aufenthalt.

Das hilft generell, denn ich habe in meinem Leben nie mehr so viele Schwänze auf einmal gesehen und ich hatte mich ja bereits über meine Meinung zu den primären Geschlechtsorganen geäußert… ich kann gar nicht beurteilen, ob die Devise „was auf dem Festival geschieht, bleibt auf Festival“ heutzutage überhaupt noch gelten kann, da wir ja inzwischen in einer Welt der sozialen Vernetzung leben, um es möglichst neutral auszudrücken… und die Schwanzparade war tatsächlich nicht mal das traurigste bzw. verstörendste (wieder eins dieser nicht-steigernbaren Worte) Erlebnis, auch nicht die traditionelle Müllschlacht am letzten Festivaltag. Bis heute (und ich war auf vielen solcher Veranstaltungen) auf Rang Eins befinden sich zwei Mädels, welche vollkommen zugedröhnt und mehr als leicht bekleidet und von Kopf bis Fuß mit Edding bemalt, verzweifelt auf der Suche nach einem Freiwilligen für weiß Gott was – sie waren schwer zu verstehen oder mein Hirn hat die flehenden Ausrufe gütigerweise inzwischen erfolgreich genug gelöscht… letztlich fanden sie dann noch einen, welcher sich ergab und sich vor seinen begeistert gröhlenden Kumpels einen blasen ließ; wie mir Jan berichtete wohl bemerkt. Aus reinem Selbstschutz hatte ich nach meiner ersten Begegnung mit den Damen kurzerhand das Weite gesucht und traf sie erst Stunden später wieder… sie trugen inzwischen T-Shirts und wirkten so als kämen sie allmählich wieder zu Verstand.

Wut und Rechtschreibschwäche

Tagebuch führe ich seit meinem Dreizehnten Lebensjahr; anfänglich um was gegen meine bis dato (ja, damals war sie noch schlechter) gruselige Rechtschreibung zu unternehmen (Zeitungsartikel abpinseln fand ich öde) und letztlich als perfekte Methode Wut und allerlei andere neuaufkommende Gefühle zum Ausdruck zu bringen… letztlich konnte so fast alles zur Poesie werden, manchmal sogar meine Gedichte.

Das Ende fast verdaut und zersetzt

Nur so ein Zahnschmerz

Unerträglich und weit ausstrahlend

Bis in die Eingeweide

Es brüllt das Wehklagen

Aber beinahe, beinahe verstanden

Nicht ganz verstanden, doch letztlich akzeptiert

Weil gemusst

Was nutzt es schon zu kämpfen

Zu kämpfen mit Tränen gegen Waldbrände

Schon ausgehüllt

Und voller Toleranz

Alles mit Einvernehmen

Nur so ein Zahnschmerz

Unerträglich

***

„Ich wollte meine Probleme ja ertränken, aber die Biester können schwimmen!“, Harald (Mitrotkreuzler und Kurzzeitflirt) sagte dies einst zu mir. Oh, welch wahre Worte und doch scheint es den Versuch immer wieder wert zu sein.

Wunderbar brennendes Gefühl tief in der Magengrube, schwere Glieder und Gedanken – zumindest für kurze Augenblicke hilft es irgendwie. Und obgleich ich mir bereits vor Jahren schwor, nie alleine zu trinken, denn ich wollte doch auf keinen Fall so verloren sein, wie meine Mutter es ab und an war, manchmal auch heute noch ist, führe ich seit Tagen mit Leichtigkeit das Glas an meine Lippen.

Ich will gerade so gar nichts verarbeiten, ich will mich nur beschäftigen – bin rastlos, wie schon lange nicht mehr. In der Klinik war ich wenigstens beschäftigt: da pumpte man mich mit Medikamenten voll (konnte nicht mehr schlafen, selbst mit Schlaftabletten war es mehr ein Dämmern, schrieb nur noch Listen und dachte zuweilen mir platzt der Schädel – ein irres Gefühl; muss ich nicht nochmal haben) und versuchte mich auf mein Leben nach der Diagnose vorzubereiten.

Ich fühlte mich beschützt, war so dankbar für meine Familie und die lieben Freunde.

Jetzt sitze ich hier, es ist bereits Juni, draußen stürmt es und ich mag gerade so gar nichts mehr wissen.

Es ist kein Todesurteil! Hach, wie wahr das ist und wie oft habe ich das nun schon gehört und doch behandeln mich meine Lieben, als wäre es eins… stets besorgt, alles tun sie nun für mich, ach und immer so besorgt!

Ich vergesse andauernd, dass ich ja als schwerkrank gelte, doch sie rufen in mir die Erinnerung zurück, mit jedem Blick, jedem gut gemeinten Rat und das jeden verdammten Tag!

Ich bin noch nicht abhängig, auf ständige Hilfe angewiesen, auch wenn das vielleicht bald so sein könnte – ich fühle mich aber jetzt schon so.

Und oh wie gern wollte ich eine lockere, lustige Jugendgeschichte erzählen…

Lektionen

Tucholsky schrieb einst: „Um sich auf einen Menschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man ist dann wenigstens für diese Zeit sicher, dass er nicht davonläuft.“

Noch vor dem Mauerfall (und auch noch sehr lange danach), da war ich etwa drei, zogen mein Bruder, Vatern und ich so ziemlich jedes Wochenende über die Spielplätze.

Ich bin heute noch irre gern auf solchen unterwegs, auch wenn ich selbst mittlerweile ein Kind mitnehmen muss, um nicht völlig aus dem Rahmen unserer Gesellschaft zu fallen. Fortzugsweise eines von Anja (so von wegen dem möglichen Vorwurf der Kindesentführung), um dann stundenlang ausgelassen, wild schreiend und springend in leider viel zu fremdgewordene, noch unschuldige Welten abzutauchen und einfach wieder Kind zu sein.

Also ’88 war’s und der Fröbelplatz noch im alten Gewand; mit Steinrutsche, Metallklettergerüst und sonst nur Sand.

Um endlich mal klischeehaft zu werden: ich weiß es noch wie gestern, wir spielten „Entchen, Wolf und Jägersmann“.

Der Wolf (Vatern) wollte das Entchen (mich) fangen und der Jägersmann (mein Bruder) sollte die dumme Ente davor bewahren zu einer Zwischendurchmahlzeit zu werden.

In unserem Spiel gab es klare Regeln, eine davon war, dass der Wolf nicht schwimmen kann.

Ich plansche also im Wasser (Sandkasten) und fühle mich sicher, als ich ein Brüllen vernehme und sich eine riesige Gestalt plötzlich auf mich stürzt.

Oh, was war das für ein Drama!

Heute, wie damals, bin ich entrüstet, dass Vatern gegen die eigenen Spielregeln verstoßen, sie gedehnt hatte, wie er es zu nennen pflegt.

Regeln waren in meinem Leben stets sehr wichtig, mir wurde beigebracht ihnen zu folgen, da auf diese Weise alle am besten miteinander auskämen.

Ausgerechnet mein Vater zeigte mir an diesem Tag und dass nicht zum letzten Mal, dass Regeln gebrochen werden können, man muss eben nur mit den möglichen Konsequenzen leben. In unserem Fall, das kleine weinende Mädchen zu beruhigen und das Spiel erneut zu spielen, obwohl der Wolf ja nur aus Zeitgründen so plötzlich schwimmen gelernt hatte.

Ich halte mich an Regeln – jedenfalls an solche, die mir sinnvoll erscheinen, was vor allem heißt, dass ich niemand anderen wissentlich Schaden zufüge.

Wobei „wissentlich“ hervorgehoben gehört! Denn aus reiner Dummheit tat ich schon vielen Menschen in meinem Leben weh.

***

„So, was wünschst du dir nun zum Geburtstag?“

Wir saßen uns mitten im Bereitschaftsraum des DRK gegenüber, als Jan endlich seinen Wunsch äußerte, indem er mit der Zunge seine linke Wange ausbeulte und ich daraufhin nach einem kurzen Aufschrei, länger als unbedingt in der Öffentlichkeit angebracht, mit offenen Mund dasaß.

Okay, damals war ich Siebzehn und diesbezüglich noch von keinerlei Sachkenntnis getrübt, denn obgleich Jan redlich bemüht war mir alles, in seinen Augen, entscheidende an Information im Umgang mit den männlichen erogenen Zonen beizubringen, hüllte er sich zu diesem einen speziellen Thema in Schweigen, was mich zu ernsteren Recherchen zwang.

Im „Berlinchat“ fand ich auch tatsächlich einige Jungen (oder waren es schon Herren?), die mir nur zu bereitwillig zu erklären versuchten, was ich beim ersten Blowjob zu beachten hab – der Vergleich mit dem Lutscher fiel des Öfteren. Wie mir später aber auffiel, hatte ich die beste Anleitung schon im zarten Alter von Vierzehn bekommen (ich weiß, dass das heutzutage alles viel, viel früher läuft… Kinder, manchmal ist es nicht verkehrt etwas zu warten, so von wegen der geistigen Reife etc. – ich möchte aber unter keinen Umständen behaupten, dass meine Entscheidungen damals irgendetwas mit geistiger Reife zu tun gehabt hätten), auch wenn mir erst nach dem höchst befriedigenden Kompliment, ich wäre perfekt, klar wurde, welches Wissen ich da eigentlich nutzte.

Ein Buch, ein „Historienroman“. Fragt mich nicht, wie ich da rangekommen bin (nein ehrlich, ich kann mich nämlich tatsächlich nicht mehr erinnern).

Bisher hab ich nur einem weiteren Mann mein kleines Geheimnis und die passende Lektüre dazu anvertraut und dieser berichtete mir mit Begeisterung vom anschließenden „Erfolg“ seiner Freundin.

Und wenn ich sonst nur noch Langeweile für die Welt empfand, so ging ich in der Sexsache echt auf… und konnte Jan selbst somit noch die ein oder andere Lektion erteilen.

Es ist mir bis heute ehrlich gesagt unbegreiflich, dass ich bis dato unerfahrenes Küken das Highlight von Jans Sexleben darstellen sollte und natürlich erfüllt es mich schon ein wenig mit Stolz. Bevor einer jetzt einwirft: „Kerle behaupten doch alles um das zu kriegen, was sie wollen.“ – das stimmt vermutlich sogar manchmal, allerdings ist Jan so ziemlich der schlechteste Lügner, der mir je über den Weg gelaufen ist und trotz all seines öffentlich zur Schau gestellten Machogehabes war er teilweise erschreckend verunsichert im Umgang mit zwischenmenschlichen Beziehungen, was häufig zu einem auch sehr lustigen gemeinsamen Erfahrungsaustausch führte.

Die Tatsache, dass ich ab einem bestimmten Punkt immer genau wusste, wenn er versuchte mir einen Bären aufzubinden und ich trotzdem immer bei ihm blieb, spiegelt meine emotionale Abhängigkeit zu ihm leider nur allzu deutlich wieder.

***

Ich lernte vor kurzem ein paar Mädels kennen, die sich voller Entsetzen über meine augenscheinliche Unerfahrenheit in Sachen Männer und Sex ausließen, schließlich hatten sie ja schon wesentlich mehr Männer im Bett und was könnte ich da schon groß erlebt haben?

Das sich fast all ihre Geschichten nur um furchtbar schlechten oder eher gruseligen Sex drehten (ich sag nur Fußfetischisten und primäre Geschlechtsorgane in der Form von Gewürzgürkchen), tat für sie anscheinend nichts zur Sache.

Hm, schon meine Lehrer in der Schule bestanden bei unserer Mitarbeit stets darauf, dass Qualität über Quantität geht – also hielt ich mich mit einem Schmunzeln zurück und ließ ihre vielen Erlebnisberichte über mich ergehen.

atmen wird überbewertet

Eine „lustige“, weil als Nebenwirkung getarnte, Atemnotattacke erinnerte mich neulich an einige, nicht weniger reale Momente, in denen mir nicht nur die Luft wegblieb.

Hm, seltsam, meine Mutter schienen diese Anekdoten so gar nicht beruhigen zu wollen. Doch ich versuche seit geraumer Zeit nach dem Motto „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ zu leben.

Lassen wir die Verkehrsunfälle, Alkoholvergiftungen und Drogenrauschabstürze mal außen vor und kommen zu dem Abend, an welchem ich fast an einem Schluck Orangensaft krepiert wäre:

Anja und ich wollten im reifen Alter von Sechzehn (man dieses spezielle Lebensjahr hatte rückblickend offenbar einiges zu bieten) zum ersten Mal die komplette Nacht draußen verbringen; nur noch kurz ein bisschen O-Saft zur Stärkung, sonst schlägt einem die selbst gebastelte Bong womöglich noch auf den Magen.

Und wie das so oft ist – Flüssigkeiten und Lachanfälle vertragen sich eher selten.

Eh wir uns versahen, krampfte ich auf allen Vieren auf dem Küchenboden vor mich hin und die Luft ging weder rein noch raus.

Anja war wohl ziemlich geschockt, als sie mir recht hilflos dabei zusah, wie ich so nach Atem rang.

Das ist mal ne Sache, die ich meiner Ausbildung im Roten Kreuz zu Gute halten muss – ich brauchte nur Sekunden (auch wenn diese beinahe endlos erschienen), um mich zu entsinnen, dass Abhusten eine sinnvolle Alternative zum Erstickungstod darstellt.

Und dass das von Erfolg gekrönt war, muss ja nicht extra betont werden.

Der Rest der Nacht war etwas anstrengend, da ich noch bis in die frühen Morgenstunden Saft hochhustete und wir schließlich völlig erschöpft so gegen fünf Uhr zu mir nachhause krochen.

Meine Eltern haben nie wirklich gefragt, warum wir eigentlich um diese Uhrzeit dort auftauchten, obgleich es doch hieß wir seien bei ihr übers Wochenende… vermutlich wollten sie es einfach nicht so genau wissen.

Ach, und dann raffte es mich ein paar Monate später fast dahin, als ich mich auf einer Silvesterparty (pünktlich zum Jahreswechsel) beim Jointrauchen zu doof anstellte – doch auch dort half abhusten.

Husten: Reflex, Lebensretter, Ausdrucksform…!

Na gut, jeder hat sicher schon mal seinen Körper auf die ein oder andere Weise mit ungesunden Substanzen oder unkontrollierten Atemzügen belastet und dementsprechend die Konsequenzen tragen müssen. Es ist auch nicht allzu angenehm wenn man vor versammelter Mannschaft (am besten ist dann noch der süße Junge dabei, den man immer ansprechen wollte, sich aber nie getraut hat) kreidebleich und Angstschweiß gebadet zusammensagt und sich nochmals die letzte Mahlzeit durch den Kopf gehen lassen muss. Denn wir alle haben doch sicherlich im Biologieunterricht den durchaus möglichen Zusammenhang zwischen Hustenreflex und anschließendem Brechreiz gelernt…?

Aber keine Sorge, mittlerweile habe ich mir von einer gelernten Ergotherapeutin erklären lassen, dass es schamanistisch betrachtet das Beste ist den Wünschen des eigenen Körpers nachzugeben. Also, wenn er dir zu verstehen gibt: „Mir ist schlecht, das war zu viel Alkohol oder das Stück Fleisch machte keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck mehr oder auch, verdammt erst kauen, dann sprechen!“, dann zögere es nicht lange heraus, sondern kehre beruhigt dein Innerstes nach außen – zu Deutsch: übergib dich, was das Zeug hält und beeindrucke hinterher den süßen Jungen mit deinem Halbwissen über alternative Medizin.

am Grund des Sees

Ohne Werbung für den Rausch auf Pot, ob nun im Kaffee oder wunderbar zuckrig eingebacken, zu machen – ein absolutes Hochgefühl.

Ob du nun Stunden mit Lachen verbringst, eine unsagbare Faszination für den Anblick von  Räucherstäbchen entwickelst, jedes Körper- und Zeitgefühl verlierst oder einfach nur versuchst eine zusammenhängende Unterhaltung zu führen…

Oh, und jede Berührung, jedes noch so sanfte Streicheln scheint plötzlich vertausendfacht und bringt dich zur Ekstase.

Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nur noch sein… völlig losgelöst von jeglicher Realität. Nur noch Gefühl!

Doch wehe, wenn du nicht mehr weißt, wie dir geschieht und ständig unter Filmrissen leidest und dir alle paar Sekunden aufs Neue einfallen muss, dass du Sex hast und das du vor allem gerne Sex hast und den Menschen auch ganz genau kennst und ihm vertraust… nicht nur ein „sogenannter“ Horrortrip!

Oder du fährst Fahrrad, bist mitten in der Nacht in Berlin unterwegs und versuchst krampfhaft bei der Sache zu bleiben, um den Weg nachhause zu finden. Hilflos, denn ständig verlierst du die Orientierung und jedes Gefühl für die Realität und plötzlich quatschen dich drei Kerle an und wollen mit dir ficken, während du sie nur glasig und entsetzt anstarren kannst.

Bis du endlich wieder in deiner Bude bist und nur mit viel Glück weder überfahren noch vergewaltigt wurdest.

Vielleicht zuckst auch du die halbe Nacht auf deinem Rücken liegend vor dich hin, deiner völlig gewiss, dass du erstickst, schaffst du es nicht dich bald umzudrehen.

Und wenn du nun Ninjas auf dich zuspringen siehst und Filmmusik vom letzten James Bond in Dolby Surround erklingt, obgleich du doch nur einen Hinterhof betreten hast…das nächste was ich dann noch mitgekriegt hab; ich halbnackt vor Jans Klo, nachdem er mir die Haare gewaschen hatte, zittrig, panisch zurückschreckend bei jeder seiner Berührungen.

Also keine Macht den Drogen oder so!

im Land der Spiegel

An dieser Stelle empfehle ich Beethovens Mondscheinsonate aufzulegen; ein traumhaftes Stück…

Ich fiel einst in einen Kaninchenbau von scheinbar unendlicher Tiefe… schon längst blickten meine Plüschtiere nur noch finster drein, betrübt über den Verlust des kindlichen beim Eintritt in die Welt all dieser erwachsenen Kinder – strebsam, arm an Fantasie, zu groß, als dass sie noch in einen Kaninchenbau passen würden.

Mühsam klopfte ich mir Staub und Sand von den Sachen; suchte Sicht gegen die brennende Sonne. Alles war verdorrt, kein Pflänzchen, kein Fluss, keine Geräusche – oh triste, zerstörte Unschuld!

So lief ich durch die Wüste, geleitet vom Bild meiner Erinnerungen: „Hier müsste es doch irgendwo diese mächtige Burg geben. Tanzten hier nicht einst die Blumen und Feen immer gleich zu sich stetig wandelnder Musik? Schmeckte das Wasser aus dem kristallenen See nicht süß und spendete die fröhliche Trauerweide nicht Schatten und Geschichten?“

Was war nur passiert?

Leeren Blickes nahm ich alles in mich auf, wollte erfrieren unter der brennenden Sonne, umgeben von eiskaltem Wind…

„Emily, aufwachen!“

„Oh, was gab’s? Ach ja, ein wichtiges Ereignis aus dem Jahre ’79… ehm, Willy Brandt wurde seines Amtes enthoben.“

„Grad nochmal gerettet! Ich weiß zwar nicht, wer dich auf die fixe Idee gebracht hat in PW (Politische Weltkunde) eine schriftliche Prüfung ablegen zu wollen, aber ich kann dir nur raten, dich mehr anzustrengen!“

Na ja, eigentlich war meine Lehrerin damals eher sprachlos, als sie von der Prüfung hörte, doch so oder so ähnlich hätte sich ihr Kommentar bestimmt angehört. Was ich mir schon des Öfteren anhören musste, es war wohl stets überdeutlich, was die Lehrer so von mir hielten – obgleich sie doch irgendwie unparteiisch sein sollten – entweder waren sie von mir begeistert oder eben so gar nicht. Dazwischen gab es kaum noch was. Und das zeigten sie gnadenlos. Ich konnte halt nie die Klappe halten und wollte doch immer nur meine ehrliche Meinung zum Ausdruck bringen.

Hätte ich mir einigen Ärger ersparen können?

Vermutlich.

Doch natürlich genoss ich auch einiges an Narrenfreiheit; mochten mich die Lehrer.

Um wirklich zu lernen, etwas hervorzubringen, muss ich besessen sein! Ich interessiere mich für vieles, denn ich betrachte Bildung als höchstes Gut, doch mein Interesse wandelt sich ständig, zieht vorüber, wie der Stand der Sonne.

Mittlerweile hab ich mich damit abgefunden – ich lebe und lerne, schaffe alles phasenweise und so schnell, wie die Phasen kommen, gehen sie auch wieder. So verfolge ich zuweilen eben vielfältige Projekte… doch bin ich besessen von einer Sache, dann erreiche ich Perfektion! Und das ist doch auch der Schlüssel für jeden Künstler, Wissenschaftler, Sportler…

***

Ich erblickte gerade noch den aufgebrochenen, ehemals goldenen, Käfig meines Schutzengels, als die Erde zu beben beginnt und sich vor mich auftut; was mir blieb, war laufen, rennen und springen in den Abgrund meiner Seele, ins Unbekannte.

Der Aufprall muss hart gewesen sein, denn ich entsinne mich nicht mehr. Ich erwachte und wünschte im gleichen Augenblick ich hätte es nicht getan; alles grau in grau, eingehüllt in dämmriges Licht…was konnte ich tun? Wie sollte ich je wieder nachhause finden?

„Emily? Emily!“

„Hm…?“

„Verdammt, du solltest dein Zimmer aufräumen! Und die Spülmaschine ist auch noch nicht ausgeräumt! Wie soll das denn werden, wenn du mal einen eigenen Haushalt führen musst?!“

Ist ganz gut geworden, das mit dem eigenen Haushalt. Ich glaube die Meisten lernen das auch erst wirklich, sind sie auf sich allein gestellt und erkennen, was die Mutter einst alles so für die getan hat; was sie von nun an allein tun müssen…

***

Ein Weg, kaum wert als solcher bezeichnet zu werden und doch es war der Einzige, der mir blieb. Und überall diese Weggabelungen – wirr verstreut, geschrieben in einer Sprache, die ich wohl einst gekannt haben muss.

Was bleibt, ist rennen… und ein Kampf gegen die Tränen, gegen mich selbst! Ein Sprung über die Klippen der Zeit; mit der Gewissheit, dass ich wieder fliegen kann. Ganz genauso, wie damals, als ich jeden Morgen neben meinem Bett erwachte, als ich mit Leichtigkeit in jeder noch so grauen Wand eine andere Welt erblickte.

Doch immer dieser eisige Hauch im Nacken; alles nur ein Traum.

Und wie sagte mir stets die Mutter? „Träume sind Schäume!“ Oh, und wie wunderbar weich, wollend, manchmal seidig, oft verhüllt in zu bunten Mustern, die Verwirrung stiften… und ich hebe ab, breite meine Arme aus und fliege heim.

„Was denkst du gerade?“

„Nichts.“ Nichts Halbes, nichts Ganzes! Wir sollten nur Freunde sein, alles andere zerstört mich – nie habe ich das wirklich ausgesprochen.

„Bist du glücklich?“, Jans Kopf auf meinem Schoß, sein Handy klingelt. Das wird wohl seine aktuelle Freundin sein. Was wird er diesmal sagen? Ein Stau. Der Bereitschaftsabend ging länger. Musste noch schnell was einkaufen.

„Ja.“ Manchmal war ich glücklich, manchmal nicht.

ach, da war ja noch

Chris. Der ganz liebe Kerl und ich blieben über die Jahre so was wie Freunde und feierten einst auch mal Silvester miteinander. Im Nachhinein betrachtet, sollte ich wohl eher sowas schreiben, wie: Chris und ich blieben Freunde obwohl wir einst Silvester miteinander verbrachten, denn diese Nacht stellt den zweiten gescheiterten Versuch unserer Beziehung dar.

Wir besuchten das Brandenburger Tor oder vielmehr die Absperrungen. Da es uns zu viel Getümmel war, schlenderten wir schließlich übern Potsdamer Platz und wärmten verzweifelt unsere erfrierenden Glieder – ja, es war ein kalter Winter.

Irgendwas bei etwas länger nach Mitternacht kamen wir im Hause seiner Eltern an. Diese waren ausgeflogen und so hatten wir noch etwa eine Stunde, um uns nicht nur warme Gedanken zu machen.

Zu meiner Ehrenrettung – ich bin echt kitzelig und er war zu nervös und so war’s ne riesen Enttäuschung für ihn, weil er keinen Stich bekam und für mich, weil er danach eine ganze Weile nicht mehr mit mir sprechen wollte.

Immer wenn wir uns nach dieser Pleite begegneten, betranken wir uns, flirteten heftig miteinander und gingen dann jeder allein und reichlich frustriert unserer Wege… auch eine Art von Tradition.

Inzwischen erfuhr ich kürzlich von Maya, dass der liebe Chris heiraten wird. Er hat bei einem Besuch in Asien ein wirklich nettes Mädchen kennen gelernt. Ich freu mich sehr für ihn.

weder vor noch zurück

Um die ganze Schose mal in einen zeitlichen Rahmen zu drücken – gestern gewann der DFB das Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft 2010 gegen Argentinien mit einem sagenhaften 4:0 und ich entdeckte bei grausamen 36°C im Schatten die Fanmeile von Neumünster… jedes aktuelle Weltgeschehen ignorierend wurde Neumünsters Großflecken von äußerst ausgelassenen, weil betrunkenen und mit Deutschlandfahnen schwingenden Menschen eingenommen und somit jeglicher Verkehr lahmgelegt. Was wohl keinen störte, denn die paar Autofahrer, die im Kreisel umgeleitet wurden, hupten ausgelassenen und schwangen ebenfalls ihre Deutschlandfähnchen…

***

Irgendwann bin ich dann ausgezogen, so ziemlich gleich nach dem Abitur (unfassbar, aber wahr – trotz all der Feierei und der Dramen), denn zuhause wurde es immer lauter von Tag zu Tag.

Dann kam die erste Ausbildung und der Gedanke, dass ich wohl nicht dazu geeignet bin ein produktives Mitglied dieser unserer Gesellschaft zu werden und noch mehr Party und noch viel mehr Drama.

Das Leben eine ständige Wiederholung… alte Probleme in einem neuem Gewand.

Am Ende meiner Zeit in der Hauptstadt war ich nicht mal mehr in der Lage dazu meine Haustür abzuschließen, geschweige denn den Laden, in welchem ich arbeitete. Immer wieder drehte ich um, musste ich mich davon überzeugen, dass diese verdammte Tür auch wirklich zu ist. In manch schlafloser Nacht hielt mich lediglich mein eigener Schwur niemals andere zu verletzten davon ab meine Katze aus dem nächstbesten Fenster zu werfen. Und nur das stete Schlagen meines Schädels gegen Zimmerwände schien die nagende, lachende, viel zu klare Stimme in mir zum Schweigen zu bringen.

Darauf folgten zwei, drei gute Tage und es ging von vorne los.

Inzwischen bin ich dabei meine zweite Ausbildung zu absolvieren und das Türen verschließen bereitet mir zwar nach wie vor so einige Schwierigkeiten, aber die Anzahl der guten Tage zwischen dem Rest hat sich vergrößert.

In den Augen meiner Mutter bin ich stark; so viel stärker als sie es je war. Deshalb rufe ich sie nicht an, wenn die Welt über mir zusammenbricht. Denn nur wenn ich für sie stark bin, wird sie mir zuhören, wird sie sich mir anvertrauen und muss nicht allein mit der ganzen Scheiße, die ihre ständige Lebenswiederholung für sie bereithält, fertig werden.

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Ich bin bis zum heutigen Tage nicht gewillt, Worte über eine Frau zu verschwenden, die meine Familie über Jahre terrorisiert hat, die meinen Vater manipulierte und meine Mutter an den Rande des Wahnsinns trieb… und mich wohl irgendwo dazwischen.

Es gibt keinen Sitzplatz, wenn du versuchst es allen recht zu machen. Doch es gibt offenbar immer einen Mittelweg, wenn sie doch alle nur Opfer ihres Lebens sind und du dich nicht für eine Seite entscheidest, sondern als Diplomat agierst – es macht nur einsam und es hat Jahre gedauert, bis ich wieder vorrangig Tochter wurde und weniger Spielgefährte, Mitarbeiter, Psychologe, Motivationstrainer oder gar Mitwisser.

In der Ehe meiner Eltern, wie auch in meiner Beziehung zu Jan geht es weder vor noch zurück und immer dieselben Diskussionen, Hoffnungen, Träume, Enttäuschungen und niemals Aufgeben!

Es muss doch gut enden!

Verdammt, wir gehören doch zusammen, schließlich quälen wir uns seit Jahren und Jahrzehnten!

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Als mein Vater sich vor ein paar Jahren dann mal wieder entschloss sich von Hydra, die sein Leben über zehn Jahre beherrscht hatte, zu lösen, führte das zu einer sehr kindischen, aber ebenso lustigen Auszugsaktion aus der gemeinsamen Wohnung.

Natürlich war ich es, die ihn dabei nur allzu gerne unter die Arme griff.

Wir hatten den Großteil seines Krams in den frühen Morgenstunden in einer Nacht- und Nebelaktion aus der gemeinsamen Bude geholt und alles hätte gelaufen sein können, wenn Vatern nicht seine Jacke samt Papieren vermisst und den Wohnungsschlüssel bereits feierlich im Briefkasten versengt hätte. Und so standen wir nun vor verschlossenen Türen und debattierten lange über unsere Möglichkeiten, bis hin zum Einbruch, als die Frau schließlich aufkreuzte. Er also unschuldig mit hoch, kurz ne Runde gedreht, ohne die Jacke zu finden; ergo sie liegt wohl doch im Umzugswagen, was uns dann, nach einem kurzem Blickaustausch, zuckenden Schultern und einem alles wissenden Nicken, dazu veranlasste loszusprinten, als ginge es um Leben und Tod – und sie hinterher… Gott, was haben wir gelacht. Und sie fühlte sich tatsächlich von mir betrogen, nach allem was sie doch getan hatte, um mein Vertrauen zu gewinnen.

Ich erwähnte ja die einsame Position des Diplomaten, der überall zuhause sein muss und es eigentlich nirgends mehr ist.

Doch nichts geht mir über meine Familie.

Okay die meiste Zeit treiben sie mich zur Weißglut, aber das müssen sie wahrscheinlich, um das Gleichgewicht zu wahren.

wie der Herre, so’s GScherre

„Wir haben Flori einen neuen Trick beigebracht…man legt ihr ein frisch ausgedrucktes Papier aufn Tisch und sie fängt an zu fauchen und zerkratzt es!“

Maya hatte sich irgendwann mal eine Katze zugelegt und diese schien ihr äußerst ähnlich – reichlich irre, neurotisch und nicht ganz knusper, auf der andern Seite süß und lieb, so wie Maya eben…ihre Worte, nicht meine, aber unterschreiben würde ich sie jederzeit.

Meiner Verwunderung gegenüber, mich stets am besten mit Menschen zu verstehen, die in ihrem Verhalten teilweise ein wenig außerhalb der Norm zu liegen scheinen,  entgegnete mein Vater lediglich, man bekommt immer zurück, was man ausstrahlt.

Vielleicht gebe ich ja auch nur wieder, was mich umgibt?

Nein, ich hab ’nen Schatten, so wie all meine Lieben, aber das ist schon okay, wir mögen uns trotzdem oder gerade deshalb.

Und Maya heiratet im Übrigen in einigen Tagen… Gott, wie die Zeit vergeht!

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„Ich lerne nicht gerne neue Leute kennen. Menschen sind unzuverlässig und kotzen mich meistens an!“

Ich weiß zwar nicht, wie’s euch gegangen wäre, aber für mich war das ne Einladung.

Anna wohnte sogar für ein paar Wochen bei mir und trotz all meiner Neurosen und ihrer Skepsis gegenüber der Menschheit im Allgemeinen wurden wir Freunde. Sicherlich war die Tatsache, dass sie ebenfalls voller Neurosen ist und ich im Allgemeinen mit den Menschen auch so gar nichts anzufangen weiß, auch ein Grund für unser fast schon wortloses Verständnis miteinander (wenn ich ihr zu höre, bekomme ich Eindrücke einer wahrhaft wilden Jugend, nicht sowas Weichgespültes, wie die meinige… doch das ist eine andere Geschichte, die sie selbst irgendwann mal erzählen muss).

Spannenderweise hat natürlich auch das Mädel einen ziemlichen Knall. Inzwischen glaube ich wirklich, dass das die Grundvorrausetzung für eine längere Freundschaft mit mir ist.

an diesem so schönen Tag

Seit ich alleine wohne, fühle ich mich zuhause… sowohl in Berlin, als auch jetzt, freue ich mich jeden Tag in meiner eigenen Wohnung aufzuwachen; ungestört und frei!

Doch mit der Freiheit kam natürlich auch die Verantwortung und ohne jetzt diese alte Leier „du wirst die Schulzeit vermissen“ abzuspulen; es ist wahr!

Und wenn die Sonne mal zu hoch steht und die Wände immer näher rücken, wird diese eigene Wohnung sehr klein oder viel zu groß… mit einem Mal fehlt dir die Mutter, die du zumindest anschreien konntest, wenn dir was nicht gepasst hat und der Bruder, dem du Vorwürfe machtest, und natürlich der Vater, mit dem du um die Häuser gezogen bist (ja, genau in der Reihenfolge: nachdem ich erstmals ausgelernt hatte und mich dem Amt zu Liebe zu bewerben versuchte, machten Vatern und ich des Öfteren Kneipentouren; vielleicht konnten die ja jemanden am Tresen gebrauchen?).

Was bleibt, ist Schweigen und immer wieder diese Langeweile, diese Sehnsucht nach dem Leben und diese Angst davor.

Ich hatte schon mein Leben lang Probleme mit dem alleine sein, denn ich vertraue mir nicht und so ist es nicht verwunderlich, dass ich auch mit dem halben Land zwischen uns und dem Wunsch, der aufgrund all des Chaos‘ und dem Hin und Her immer wieder aufkam, ihn endlich los zu werden noch Kontakt zu Jan gehalten habe.

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Sex, Drogen, Suizid

Meine großen Lebensziele mit knapp Fünfzehn.

Und dass ich sie mit gerade Sechzehn bereits erreicht hatte (mit unterschiedlichem Erfolg), machte mich nicht eben fröhlicher.

Man kann wohl sagen, ich gehörte zu der Sorte lebensverneinender Teenager; das Leben, die Verantwortung ängstigten mich und natürlich sah ich in Allem keinerlei Sinn.

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Mit dem Gedanken sterblich zu sein, kam ich das erste Mal im Alter von etwa Zehn in Berührung. Wir saßen zu lange im Wartezimmer von Dr. Moch (Hautarzt) und mein Blick blieb unweigerlich an den Photographien der ersten eventuellen und wohl auch sicheren Hautkrebsanzeichen hängen. Die nächsten Tage verbrachte ich voller Angst in meinem Zimmer; jeder Leberfleck ein Todessignal.

Ich weiß gar nicht, was mich dazu brachte mich zu beruhigen; nur dass es nicht meine Eltern waren. Denn trotz meines Alters (oder ist das dann schon normal?) war ich mir der Irrationalität meiner eigenen Gedanken bewusst und wollte natürlich nicht ausgelacht oder belehrt werden.

Später drehte sich diese Todesangst – verdrehte sich zu einer Angst vor dem Leben.

Und oh wie sehr wünschte ich mir eine Krankheit, eine Entschuldigung. Denn hätte man eine schwere Erkrankung, ein Schicksal, dann würde es genügen nur damit irgendwie zu recht zukommen und man wäre der Held…

Gott, was für ein Blödsinn!

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In der Ergotherapie (wir sollten an einer vorgegebene Linie entlang eine Zeitung zerreißen – Geschicklichkeitstraining; Pistazien schälen ist wohl auch eine tolle Übung) saß ich neben einer sehr netten Dame von knapp Vierzig. An diesem, ihren letzten Therapietag konnten wir sie alle dazu beglückwünschen, dass sie sich wieder allein ihre Bluse zuknöpfen konnte.

Mittlerweile habe ich einen Sinn für mich gefunden, inzwischen freue ich mich über jeden Tag, denn es gibt noch so viel zu lernen und zu erleben. Scheiß auf allgemeine Ansichten, auf gesellschaftliche Sitten – ich lebe für mich.

Um mal wieder mit Binsenweisheiten um mich zu werfen:

Das ich geboren wurde, konnte ich mir nicht aussuchen, doch glücklicherweise bin ich noch in einer Situation, in der ich die Wahl habe, in der ich über das Glück und Unglück meines Daseins bestimmen kann, in der meine eigene Trägheit mein größter Feind zu sein scheint…

Zu leben erscheint mir ein gutes Lebensziel!

was ich

„Glück macht durch Höhe wett, was ihm an Länge fehlt.“ (Robert Frost)

Oh, unser Trennen und Wiederfinden ging nun über fast Zehn Jahre und dann wurde ich sogar seiner Familie vorgestellt, so ganz offiziell… hach, und am Ende war ich wieder verliebt und wurde zurückgeliebt.

Doch ich bin keine Fünfzehn mehr und verliebt sein reicht schon lange nicht mehr aus, um glücklich zu werden.

Früher hätte ich wirklich alles dafür gegeben, nur um bei Jan zu sein, egal wie er mich auch behandelt hatte. Und ich weiß, es war meine Entscheidung bei ihm zu sein und es war auch richtig, denn er hat mich schon irgendwie gerettet, hat mich oft genug vor mir selbst und der inneren Zerstörungswut bewahrt.

Doch das kann nicht alles sein.

Das sollte nicht alles sein.

Alles was ich immer wollte, war eine eigene Familie, einen Platz, an welchem ich zuhause sein kann, mich geborgen fühle.

In den vergangenen Zehn Jahren ist mir so viel Schönes, Großartiges, Ätzendes, Furchtbares, Grandioses… passiert und es ist erstaunlich auf wie wenig Seiten sich dieses mein Leben zusammenfassen lässt.

Sicher gibt es noch zu Hauf Anekdoten, die ich hier weggelassen habe.

Geschichten über Menschen, die mir lieb und verhasst oder einfach nur gleichgültig waren. Geschichten über Partys, Konzerte, Festivals. Geschichten über Angst und Verzweiflung, Freude und Ausgelassenheit.

Doch mittlerweile ist mir das alles nicht mehr so wichtig.

Vor einiges Wochen (da hatte ich bereits begonnen zu schreiben und die ultimative Jugendverarbeitung im Sinn) diagnostizierte man bei mir Multiple Sklerose und diese Idee, dieser kleine Plan, den ich mir nun endlich für mein Leben überlegt hatte, stürzte über mir zusammen. Als nützte man eine Abrissbirne, um ein Kartenhaus zu zerstören.

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Heute kam ich das erste Mal wirklich an meine körperlichen und auch gesundheitlichen Grenzen – ein erschreckendes Gefühl, denn ich kann der Arbeit, die ich so liebe, die mich wohl gerettet hat (Berlin und die Ungewissheit zerbrachen mich täglich) kaum noch nachgehen und irgendwie macht es die Tatsache, dass mein Chef ach so viel Verständnis hat, nicht besser…

Man hat mir die vergangenen Wochen oft gesagt, dass ich im Grunde noch alles tun könnte und ich will nicht pessimistisch sein, doch im Moment bin ich nur noch erledigt, habe jeden Tag Schmerzen und gerade erfahren, dass es all den lieben Menschen, die ich inzwischen kennen lernen durfte, schlechter geht. Ich will positiv denken, doch eigentlich habe ich nur Angst!

Und dagegen scheint jede, damals noch so wichtige, Geschichte meiner Jugend zu verblassen … ich gebe nichts auf, ich werde nichts vergessen… doch der bittersüße Duft der Lethargie hängt mir mal wieder in der Nase und ich wollte doch so gerne nie mehr Zuschauer meines eigenen Lebens sein.

Es ist schon komisch, dieses Jahr bin ich Fünfundzwanzig geworden. Ich hätte kaum glücklicher sein können, denn es war, als hätte ich am Ende doch noch einen Weg aus den ewigen Nebeln der geballten Lebensverneinung gefunden. Ich blickte voller Pläne und Tatendrang in die Zukunft und nicht mal trübselig über die vermeintlich verschenkte Zeit, in welcher ich so viel Angst und Zynismus dem Leben gegenüber hatte.

Tja, und nun fühlt es sich an, als stünde ich wieder vor verschlossenen Türen… ich bin immer noch seltsam glücklich und beflügelt, doch ich brauche einen neuen Plan!

Optimismus ist nur ein Mangel an Information

„Das ist im Übrigen von Heiner Müller.“

„Danke für diese Information. Nun bin ich dem Pessimismus eine Information näher!“

Ich lernte Gigi, eine waschechte Hamburgerin (sie ist so voller Humor, Eigensinn, Intelligenz und Lebenserfahrung, dass es mir jedes Mal einen Stich versetzt, sehe ich, wie schlecht es ihr inzwischen geht), während meiner Anschlussheilbehandlung im schönen Bad Segeberg kennen. Zusammen mit noch ein paar Gleich- oder Ähnlichgesinnten bildeten wir prompt eine wunderbare Zweckgemeinschaft, die unser aller Reha in eine Art Jugendherbergsabenteuer verwandelte.

Komplett mit ‚Lagerfeuergeschichten’ voller Galgenhumor und Lebensphilosophie.

Und was ein Heraustreten aus der eigenen Krankheit sein sollte, ein In-sich-gehen, ein mit den neuen und teilweise alten Problemen fertig werden, wurde zu absurden, lustigen Tagen und Abenden (nicht Nächten, so von wegen der Fatigue und dem Zapfenstreich).

So hatte ich drei Wochen Spaß und bekam mit jedem Tag mehr und mehr Angst vor den Dingen, die kommen könnten…

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Visualisierung während der Anschlussheilbehandlung:

„Herr K. machen Sie es mal mit Frau D., bis Herr G. Sie wieder drauf lässt!“ – Neurozirkel

„Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einer Erbse, die sich vor ihrem Harnweg befindet und nun versuchen Sie diese einzusaugen!“ – Beckenbodentraining

„Stellen Sie sich einen Weidenkorb vor. In diesen tun Sie nun all Ihre Gedanken hinein und bedecken sie mit einem blau-weiß karierten Deckchen. Nun lassen Sie Ihren Korb einen Fluss hinunter treiben.“ (Pause…in Gedanken trieb mein Korb schon weit davon) „Sie können den Weidenkorb auch an einem Seil festbinden, um ihn später zurückzuholen.“ (und ich rannte entsetzt hinter dem verdammten Korb her) – Tiefenmuskelentspannung

„Die neurologischen Patienten nehmen vor dem Training bitte nicht die Treppe, sondern den Fahrstuhl. Sie können sonst keine gute Leistung mehr erbringen, da das Treppensteigen zu anstrengend für Sie ist.“ – Krafttraining, letzter Tag

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Als ich noch in der Klinik war, in einem Fünf-Bettzimmer lag, umgeben von sehr kranken Frauen, die alle stark zu sein schienen, die alle sehr nett waren – zu nett, um zu fragen, weshalb ich da war, fühlte ich mich seltsam beseelt.

Ich fühlte mich frei, denn endlich erklärte sich mir so Vieles (die Symptome sind mehr als vielfältig und häufig wusste ich in den letzten paar Jahren nicht recht wie mir geschieht), es war, als würde ich von einer Last befreit… hätte ich keine medizinische Erklärung für die Ausbrüche meines Körpers erhalten, der nächste Weg wäre der Psychiater gewesen.

Auch wenn es vielleicht ein wenig lächerlich klingt; ich war froh, endlich zu wissen, was mit mir los ist!

Ich hatte schon eine ganze Weile nur noch Schmerzen, also kam ich in die Klinik, wurde eingehend untersucht und nach wenigen Tagen erhielt ich eine Diagnose, bekam Medikamente, ließ meine Eltern einreisen, telefonierte mit den vertrautesten Freunden, entwickelte neue Weltansichten und Lebensweisheiten und spürte, dass alles gut wird.

Doch Bad Segeberg brachte mehr und mehr Information, Realität und ließ mich überfordert zurück.

Inzwischen schwanke ich zwischen Akzeptanz und Verdrängung, Wut und Motivation, Angst und Lebensfreude…

Und oh Gott, wie werde ich zum Teil angesehen! Meine Sippe benimmt sich, als fiele ich gleich tot vom Stuhl – beim letzten Familientreffen benahm ich mich irgendwann so daneben und sie nahmen es einfach hin, schließlich bin ja schwerkrank und da kann man mir ja nichts verübeln… häh?

Oder ich werde mit guten Ratschlägen überhäuft, die mit den Worten „ich kenn da jemanden“ eingeleitet werden und mich verzweifeln lassen.

Noch ‚besser’ ist die Variante, in der mir meine Krankheit komplett abgesprochen wird, so nach dem Motto „Reiß dich mal zusammen, du stirbst schließlich nicht gleich!“ – nein, ich könnte nur mit Anfang dreißig bereits ein Pflegefall werden; klar das sollte mich nicht so unbedingt stören.

Ach, und dieses „Hast du es nicht langsam mal verarbeitet?“ ist auch ne schöne Sache.

Ich weiß, ich bin zynisch und sicher auch ungerecht, aber solche Menschen helfen einem nicht. Sie sorgen nur dafür, dass du dir bescheuert vorkommst und dich zurückziehst, da du ja niemandem nerven willst… wie gesagt, zurzeit schwanken meine Gefühle etwas, aber ich hab mich in meinem Leben auch noch nie so hilflos und ausgeliefert gefühlt.

Hey, aber inzwischen kann ich im Schneidersitz auf einem Gymnastikball sitzen.

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Ich will nicht mehr krank sein!

nur eine Kurzgeschichte

Die Schmerzen ebben ab, hab den Schub wohl endlich überstanden oder wenigstens eine kleine Verschnaufpause zu erwarten…“Das Wichtigste für Sie ist Regelmäßigkeit! Sie brauchen einen geregelten Tagesablauf und Menschen, die Sie mit Ihrer Krankheit völlig akzeptieren – sie auf keinen Fall unter Druck setzen […] Lassen Sie sich nicht unterkriegen!“

Klare Züge, einen Platz, an dem ich mich zuhause fühle; ich hab’s echt versucht. Die Folge war der Anblick eines Freundes, der sich achselzuckend fragte, warum ich unsre doch seit beinahe einem Jahrzehnt so wunderbar funktionierende Liebschaft aufgeben möchte. Wieso ich glaube, dass es überhaupt noch schön wäre, sehen wir uns jeden Tag, teilten uns ’ne Wohnung, einen Haushalt, die Verantwortung…

„Du hast nur Angst etwas zu riskieren, was nicht schief gehen muss. Glaubst du echt nach all der Zeit würde ich noch abspringen. Mein Gott, seit über neun Jahren stehe ich da und winke wild mit den Armen, in der Hoffnung, dass du mich endlich wahrnimmst, mich zumindest als Option betrachtest. Man gewöhnt sich vielleicht daran von acht verschiedenen Menschen ’nen Arschtritt zu kriegen, aber wenn du diesen von immer derselben Person einstecken musst, dann hört es niemals auf wehzutun, ganz gleich, was man sich einzureden versucht!“

Er war mein bester Freund.

Er war der einzige Mensch, von dem ich wusste, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen möchte!

Was er dazu gesagt hat, ist nicht mehr wichtig.

große Worte

Wunderbare, reinigende Sommergewitter konnten sie nun endlich vertreiben – diese unerträgliche Hitze dieses Julis.

Vergessen die Arbeit bei drückenden Temperaturen. Vergessen, denn nun ist es kühl, vergessen scheint beinahe alles bei starkem Kaffee, einem guten Schluck Weinbrand und zwei Jahre altem Tabak. Nur der Tanz von kalter Asche im Wind, vereint sich drehend im Walzerschritt mit Mücken und bröckelndem Putz vom Balkon.

Ruhebringende Taubheit im Kopf, Kribbeln in den Gliedern, glasiger Blick… ein langes Warten auf den Sonnenuntergang und Vanessa May im Hintergrund.

Anna schreibt, sie hatte einen schönen Urlaub und hofft, es geht mir gut. Gigi erzählt, sie will ein letztes Mal nach Neuseeland. Sollte Maya und Anja bei Gelegenheit anrufen. Die Eltern renovieren immer noch ihre neue, gemeinsame (ja, sie haben es noch mal getan) Wohnung. Und Jan will mich morgen besuchen.

Violinen und Regentropfen tragen meine letzten klaren Gedanken davon, lassen mich zurück im Kurzzeitrausch vom Nikotin.

***

Mittlerweile ist einige Zeit vergangen (für Interessierte: die deutsche Nationalelf erlag schließlich Spanien und musste sich mit Bronze begnügen. Drückt man das eigentlich so aus? Hm. Bronze, der dritte Platz, Sieger im kleinen Finale… ist das überhaupt ein Titel? – war nie ein großer Fußballfan). Es ist September und schon einige Wochen ungemütlich, kalt und verregnet.

Bin jetzt seit ein paar Monaten krankgeschrieben und seit gestern nicht mehr voller Zynismus, denn ich hatte ihn endlich!

Dieser Moment, da nichts mehr geht, sämtliche Fassaden zerbrochen scheinen und man letztlich weinen kann…

Ich hatte mit den Eltern telefoniert – der tägliche Kontrollanruf, was okay ist und mir sehr hilft – und verfiel in Galgenhumor, was nicht neu ist… nur konnte ich nicht aufhören zu lachen und hätten sie mich sehen können, wäre ihr eigenes Lachen sicher verstummt.

Und ich lachte, weinte, bebte und krümmte mich vor Schmerz, und lachte, schrie und weinte. Es war das erste Mal, seit der Diagnose, dass ich etwas von dieser unbändigen Wut herauslassen konnte.

Wisst ihr, Wut ist etwas Fatales. Staust du sie auf, zerbricht sie dich oder du explodierst irgendwann an der falschen Stelle. Doch was würdet ihr tun, gäbe es keinen Schuldigen?

Was tust du, wenn niemand Schuld trägt an deinem Dilemma und du nur noch wütend bist? Wenn dir rennen oder gegen Sandsäcke schlagen nicht hilft oder du es einfach nicht kannst, weil dir alles weh tut?

Ich will meine Wut nicht an Unschuldigen auslassen, das habe ich nie getan, deshalb richte ich sie oftmals gegen mich selbst. Das tue ich schon sehr lange, denn solch ein Verhalten paart sich gut mit der Angst vorm Leben.

Doch das muss sich ändern! Das wird sich ändern!

Und um der Rahmenhandlung keinen Abbruch zu tun und somit zum Abschluss einen großen Menschen, mit seinen ebenso großen Worten zu zitieren:

anfangs wollt’ ich fast verzagen

und ich glaubt, ich trüg es nie

und ich hab es doch getragen

aber fragt mich bloß nicht, wie

(Heinrich Heine)

Ende (September 2010)

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