Prolog
Es sollte ein sonniger Tag werden, doch der herrschende Frühnebel ließ davon noch nichts erkennen.
Alles war eingehüllt in Schlaf. Selbst die paar Menschen, die zusammen mit Charlotte in der Bahn saßen, machten nicht den Anschein, dass sie aus freien Stücken hier wären. Nein, vielmehr kuschelten sie sich in die viel zu harten Polster, als würde der gerade anbrechende Tag sie noch lange nichts angehen.
Überall Schlaf und Träume…
Schlaf…
Und eh sie sich versah, stand sie mitten im Nirgendwo; umgeben von Wald, welcher sich im Nebel verlor.
Wann war der Zug eigentlich zum Stehen gekommen?
Nach kurzem Zögern und ohne sich weiter umzuschauen, steuerte Charlotte in den ihr am wenigsten gefährlich anmutenden Weg hinein. Ihre blasse Haut schien sich regelrecht aufzulösen, der dünne Körper mit seiner Umgebung zu verschmelzen, während der Wald im Nebel sie schließlich langsam verschlang.
Der kleine, aber gepflegte Bahnsteig blieb samt der Umgebungskarte zurück und begrüßte niemand bestimmten und doch jeden, der diesem Beachtung schenkte, mit den Worten:
„Willkommen in Eatrich, hier bin ich Mensch, hier fühl ich mich wohl!“
Artikel 1
„Sondermeldung: ein starker Nebel hängt über Eatrich – fahren Sie vorsichtig!“
Wieder geht ein Jahr dem Ende zu und wir blicken mit ein wenig Wehmut um uns. Denn eine dicke Nebelwand versperrt den, sonst so atemberaubenden, Blick auf den goldenen Herbst, welcher Eatrich und seine Bewohner in den vergangenen Wochen begleitet hat.
Ja, der nächste Winter kündigt sich an!
Doch mit Dankbarkeit können wir auch vor dem eigentlichen Jahreswechsel mit Stolz auf das bald vergangene Jahr zurückblicken.
Was haben wir nicht alles erreicht:
unser Stadtverein hat die alte Schwimmhalle nun vollständig restauriert,
der Marktbrunnen erstrahlt wieder im alten Glanz,
und vergessen wir nicht die Wiedereröffnung vom Haus Instenburg.
So wollen wir nun auch offiziell Herrn Doktor Hinterseer und alle neuen Mitglieder unserer Gemeinde herzlich willkommen heißen, denn sicherlich werden sie großartige und wichtige Arbeit, nicht nur, im Haus Instenburg leisten.
1
Der Tag hatte eigentlich recht gut angefangen, wenn man bedachte, dass es Montagmorgen war und ihr das Wochenende keinerlei Erholung gebracht hatte. Mit noch schlaftrunkenen Augen, aber erhobenen Hauptes und einem stolzen Lächeln im Gesicht war Maria nun in den frühen Morgenstunden beinahe beschwingt aus der Haustür getreten, nur um schon nach wenigen Schritten mit einer dichten Nebelwand zu kollidieren.
Das Lächeln und die müden Augen wichen einer gestählten Aufmerksamkeit, welche sich dunkel über die Züge der jungen Frau legte. Gerade Heute fühlte sie sich motiviert, wie schon lange nicht mehr und wollte sich dieses Hochgefühl unter keinen Umständen nehmen lassen; schon gar nicht vom Wetter!
So zog es Maria schließlich weiter; hin zur neuen Anstellung und in Richtung des Waldes.
***
Nun da Maria sich vorsichtig durch die weißen Schwaden bewegte, die kalt und feucht an ihrer Haut zu kleben schienen, merkte sie langsam wie ein unheimliches Gefühl der Beklemmung ihren Rücken empor kroch und die feinen Härchen dazu brachte sich zu sträuben.
„Ich bin nicht in Panik! Ich bin nicht…was war das?!“
Ihre Schritte beschleunigten sich merklich, der Nebel wurde immer dichter und Maria verfluchte sich nun dafür, dass sie den Weg durch diesen verdammten Park hatte nehmen müssen. Eigentlich war der Fußweg durch den Stadtpark eine Abkürzung und so bei Sonnenlicht betrachtet, schien dieser auch sehr einladend – gut gepflegte Blumenbeete, ein paar Steinfigurinen hier und da, ein schöner Spielplatz und verschiedenste Strauch- und Baumarten, welche längs der Wanderwege wuchsen. Einige der Gewächse waren mit kleinen, bronzenen Tafeln versehen, auf denen der geneigte Parkbesucher die Namen und das Alter nachlesen konnte, sowie den entsprechenden Baum-Paten.
Vielleicht, so überlegte sie kurz, lag es auch daran, dass der Park selbst wiederum umgeben war von einem beachtlichen Wald, welcher inzwischen seit einigen Jahren größtenteils unbewirtschaftet blieb, um sich ganz dem Willen der Natur entsprechend mit der Zeit in seine Urform zurück zu entwickeln. Ein schöner Gedanke, obgleich das für Maria vielmehr nach Verwilderung und Verlust eines sonst nutzbaren Raumes klang und nun da der Nebel kaum Hinweise zuließ, ob sie noch im Park oder schon im ehemaligen Forst unterwegs war, verspürte sie auch keinerlei Drang sich mit Semantik zu befassen.
In wenigen Metern müsste sie vor dem alten Backsteinbau stehen, der seit kurzem ihre Arbeitsstätte war. Müsste, sollte, hoffte sie zumindest.
„Verdammt, keine Panik! Nur noch um die nächste Kurve und ich bin endlich an einem warmen, gemütlichen Ort, werde mit den Kollegen Kaffee trinken und die erste Zigarette genießen.“
Nur noch ein paar Meter… eigentlich – hätte Maria in ihrer, ihr doch sehr typischen Panik, nicht vollkommen die Orientierung verloren. Wie blind trieb es sie durch den Nebel und so dauerte es nicht lange bis sie mit einem beinahe geister-gleichen Wesen zusammenstieß.
Hätte dieses ihr nicht aufgeholfen, Maria wäre der Überzeugung gewesen, dass es nur ein Windstoß hatte sein können.
Wieder zu Atem gekommen, betrachtete Maria das junge Ding vor sich genauer. Sie konnte nicht sagen, wie alt sie wohl war, denn ihre tief dunklen, dennoch fast kalten Augen verfälschten ihr beinahe kindliches Gesicht, welches von ebenholzfarbenen Haar umrandet wurde. „Schneewittchen in unheimlich.“, entfuhr es Maria; ein wenig geschockt und peinlich berührt, riss sie sich los und rannte davon.
***
Selbstvergessen blieb „Schneewittchen“ zurück – den Blick gen Himmel gerichtet, den Kopf in den Wolken, bis ihr plötzlich der Schreck in die Glieder fuhr… ein markerschütternder Schrei suchte sich seinen Weg zu ihr. Kurz wollte sie diesem folgen, doch mit einem Mal war da so ein Säuseln, ein Summen, welches sie wie magisch zu sich zog.
Blindlings stolperte sie voran, folgte der Melodie und stimmte sogar ein. Erst verhalten, schließlich völlig mitgerissen und außer sich, tänzelte sie singend durch die Gegend. Vergaß alles und jeden und erwachte auch nicht als sie einen, plötzlich vor ihr auftauchenden, Abhang hinunterkullerte.
Und so blieb sie liegen.
Für einen Moment durchfuhr sie der Gedanke, dass dies nun ihr Ende sei, doch letztlich war es ihr es gleich und sie war bereit sich aufzulösen und eins zu werden mit dem Nebel.
***
Es musste wohl am Wetter liegen, denn auch Maria lag, wenn auch bäuchlings auf dem feuchten Parkboden. Mit dem Fuß unter einer Wurzel, fiel nun auch das letzte bisschen ihrer Motivation zur guten Laune von ihr ab. Und wie immer wenn ihre Wut auf dem Höhepunkt war, schossen ihr die Tränen in die Augen und sie begann hysterisch zu schreien.
Lediglich die Notwendigkeit zur Atmung, ließen ihre Schreie versiegen und sie holte keuchend Luft. Mühsam erhob Maria sich, fummelte eine Zigarette aus der Tasche und genoss den ersten Zug, ein furchtbares Laster, doch es brachte ihr kurz so was wie Frieden.
So nach fünf Minuten verqualmter Ruhe, setzte das Zittern ein, Maria hatte sich in die schönste Horrorstimmung gebracht, so wie sie es als Kind schon immer getan hatte, wenn sie sich ängstlich in die Kissen drückte und hinter vorgehaltener Hand den Monstern auf dem Bildschirm folgte.
Dieser Frühnebel zerrte an ihren Nerven und hinter jedem Rascheln vermutete sie ihr baldiges Ende. Es war eine grausige Erkenntnis, als sie sich der völligen Stille um sich herum bewusst wurde. Da war kein Rauschen, kein Luftzug, kein nerviges Vogelgezwitscher, absolute Stille. Der Nebel um sie herum schien alle Geräusche zu verschlucken und hüllte Maria ein, wie klebrige Watte. Fröstelnd rieb sie sich die Arme, nur um vor Kälte und Beklemmung noch mehr zu erstarren. Ihre Glieder fühlten sich steif an und so rappelte sich Maria schließlich auf, hüpfte ein paarmal auf und ab, um locker zu werden und lief schließlich schnurstracks in die Richtung aus der sie gekommen war.
In Gesellschaft ließ sich der richtige Weg bestimmt schneller finden, ob sie ein Lied anstimmen sollte, um die Stille zu übertönen?
Irgendwas Fröhliches, nur nicht so was Dramatisches, Eindringliches wie das, was da nur ein paar hundert Meter weiter laut heraus geschmettert wurde…
„Arbeitszeit schreit die Sirene, ich komme wieder mal etwas zu spät […] Ach, könnte ich mir eine Sonne bau’n […]Eine Sonne, die nur Fröhlichkeit säh‘t, wie ein Clown “
“Moment! … was zur… das darf doch nicht…“ Maria wollte ihren Augen nicht trauen und schon gar nicht ihren Ohren. Fast verschlungen vom Nebel lag „Schneewittchen“ seltsam gekrümmt im Gras einer kleinen Lichtung, die dunklen Augen anfallsartig verdreht und trällerte „Sonne, wie ein Clown“. Maria konnte es nicht fassen, wer in ihrem Alter kannte schon noch einen solchen, lang vergessenen Klassiker… langsam näherte sie sich dem Mädchen und rüttelte fest an deren Schulter, nicht ganz sicher, ob sie sie wirklich stören wollte.
„Hey, hallo, hörst du mich?“
***
Und nun bin ich aufgewacht, wachgerüttelt und noch am Leben wie es scheint.
***
„Eh’, danke. Muss mir wohl den Kopf irgendwo angestoßen haben. Mir ist irre schwindelig.“
„Singst du immer, wenn du dir den Schädel einhaust?“
„Oh, war also doch kein Traum… na ja, wird wohl doch ein härterer Zusammenstoß gewesen sein.“, witzelte die blasse Gestalt angesichts des leicht verstörten Blicks ihres Gegenübers, denn sie sang – ständig.
Es sagte ihr mehr zu, als sich zu unterhalten, zu reden um des Redens Willen. Singen schien ihr produktiver und es vertrieb die lästige Stille, die ihr stets Unbehagen bereitete.
„Mein Name ist übrigens Walder. Maria Walder, wenn alles gut geht auch bald Doktor Walder.“, stellte sich ihr ihre neue Begleiterin vor; etwas großspurig, wie ihr schien, denn Maria war sicher kaum älter als 20 und hätte somit doch gerade erst ihr Physikum hinter sich gebracht. Nicht dass Charlotte voreilig urteilen wollte, was sie, wie man ihr oft vorwarf nur allzu gerne tat, aber das Mädel, welches sich mit vor stolz geschwellter Brust und bebend vor Erregung vor ihr aufgebaut hatte, war von einem Doktortitel etwa so weit entfernt, wie im Moment von Ruhe und Gelassenheit. Und wie um sich selbst zu solcher zu zwingen, begann Maria zu erzählen.
Davon wie schwer es war zum lang ersehnten Medizinstudium zu gelassen zu werden und wie enttäuscht sie letztlich so oft war und gleichzeitig wie froh. Es hätte sie viel Kraft gekostet und endlich würde sie auch belohnt für ihre harte Arbeit, denn heute war ihr erster richtiger Arbeitstag im Haus Instenburg, einer sehr renommierten Klinik, wie man Maria versichert hatte.
Charlotte blieb nur zu Nicken und so setzte sie ein freundliches Lächeln auf.
***
Schnell war Maria in höchster Aufregung, beflügelt von der Gelegenheit sich Luft zu machen. Sie berichtete von ihrem Traum mal eine eigene Praxis zu haben, schließlich sah sie ihre Bestimmung darin in die Fußstapfen ihres berühmten Vaters zu treten und anderen zu helfen, ihnen beizustehen in der Not, ihnen zu zuhören… ach ja, zu hören… noch immer wusste Maria nicht, mit wem genau sie da eigentlich durch den Park wanderte.
Exzentrisch musste sie wohl sein, nicht nur wegen der Singerei, auch aufgrund ihres bordeauxfarbenen Samtkleides und der türkisfarbenen Turnschuhe, auf die Maria sich keinen Reim machen konnte. Etwas selbstvergessen betrachtete sie nun ihr eigenes Outfit; ein leichter dunkelblauer Anzug und dazu passende schwarze Slipper – sie hatte es sich schon vor Tagen zu Recht gelegt und wie um ihr edles Erscheinungsbild zu betonen, strich sie nun nochmals den Stoff glatt.
Inzwischen fühlte sie sich auch wieder sicherer und gerade da sie zur entscheidenden Frage ansetzen wollte, packte „Schneewittchen“ sie an den Schultern und krallte ihr die Fingernägel tief genug ins Fleisch, dass es Maria einen kleinen Schmerzensschrei entlockte. Wie erstarrt stand sie nun vor ihr und blickte mit weit aufgerissenen Augen an Maria vorbei, obgleich sich ihre Blicke trafen. Ihr Mund bewegte sich wie im Gespräch und doch erklang kein Laut für diese Geschichte ohne Publikum. Maria schüttelte den Kopf, als könnte sie sich dadurch aus dieser absurden, doch zugleich beeindruckenden, ja erdrückenden Situation befreien, denn für wenige sich surreal in die Länge ziehende Sekunden in dieser unwirklichen Stille des Augenblicks war Maria unsicher, ob das Nichtverstehen nicht vielleicht einfach vom Nichthören ihres Gegenübers kommen könnte.
***
Es umgibt mich die schönste Nacht, ein sternenklarer Himmel und klirrende Kälte, so dass mein Körper vor Anspannung zu zerbersten droht. Weiß zeigt sich mein ruhiger Atem – wie ich die Muster bewundere, die sich malerisch bei jedem Atemzug abzeichnen und mich wie im Reigen umspielen.
Und da ist noch dieses Augenpaar, welches starr auf mich gerichtet zu mir nieder blickt. Vor Angst weit aufgerissen, fast flehend, begleitet von einem stummen Schrei, der in meinem Schädel widerhallt.
***
Charlotte war es als wäre sie auf hoher See, alles drehte sich und schwankte. Tief durchatmend, schloss sie kurz die Augen und fand allmählich in den Nebel zurück, ihren Blick auf die junge Frau vor sich gerichtet, welche sie angsterfüllt anstarrte.
Da hinter ihnen plötzlich einen Ast brach, gefolgt von etwas, was einem leisen Fluch glich, war ihre Aufmerksamkeit zurück.
Ohne sich zu entschuldigen, ließ sie Maria langsam los und setzte zielgerichtet ihren Weg fort, obgleich sie sich seiner Anwesenheit mehr als bewusst war, ja sogar den feinen Geruch von Schweiß in der Nase hatte und spüren konnte, wie er sich nicht weit entfernt eng an einen der älteren Bäume drückte, sah Charlotte sich nicht weiter um.
***
Maria folgte dem seltsamen Mädchen nun schweigend und völlig verdutzt, auch wollte sie mittlerweile gar nicht mehr wissen, an wen sie da geraten war.
Ein paar hundert Meter liefen die beiden jungen Frauen noch neben einander her, die eine augenscheinlich in sich ruhend, die andere ihre Panik versteckend und heilfroh, da sich endlich eine alte Villa majestätisch vor ihnen aufbaute.
Jetzt bloß noch ganz schnell hinein und hoffen, dass ihr Zuspätkommen niemanden wirklich aufgefallen war.
„Lessner, Charlotte!“, brach ihre Begleiterin plötzlich das Schweigen. Völlig entnervt wirbelte Maria zu ihr herum, wie konnte es nur sein, dass diese Irre mit einem Mal ihre Sprache wieder entdeckt hatte?! Doch die Vorstellung galt gar nicht ihr, sondern dem breitschultrigen Mann, der ihnen bereits den Weg verstellt hatte.
„Mensch Maria musstest du dich gerade heute so verspäten?! Dr. Hintenseer erwartet dich bereits.“
„Das ist Charlotte Less…“
„Keine Sorge, ich weiß Bescheid. Wir haben schon alles für Frau Lessners Ankunft vorbereitet. Ich bringe sie auf ihr Zimmer und du machst dass du zum Chef kommst, klar?“
„Sie ist hier Patientin?“, entgeistert blickte sie Charlotte an, welche ihrerseits fast entschuldigend zu lächeln schien. Schließlich zuckte sie noch kurz mit den Schultern und ließ sich vom Pfleger zu ihrem Zimmer führen.
***
Langsam wurde die schwere Eichentür der Klinik geschlossen; langsam genug um dem Mann, der im Schutze des Nebels unweit entfernt nun völlig ohne Deckung stand, noch einen letzten Blick zu gewähren.
***
Kurz durchfuhr Bernhard ein Hauch der Enttäuschung, da er die beiden Mädchen nun aus den Augen verlieren würde.
So lange war er ihnen beinahe unbemerkt durch den Nebel gefolgt, konnte das süßliche Parfum der Einen in sich aufsaugen, ihren fast weißen Hals bewundern, ihre Rundungen nachempfinden, welche sich bei jeder Bewegung auf dem dünnen Stoff ihres Hosenanzuges abzeichneten. Nur die Allüren der Anderen hatten ihn davon abgehalten, sich den beiden persönlich vorzustellen. Aber vielleicht könnte sich eine solche Gelegenheit in der näheren Zukunft ja noch auftun für sie; für ihn.
Nun erst mal zur Ruhe kommen… schnell zündete er sich eine Selbstgedrehte an und lehnte sich gelassen an die von Sträuchern umsäumte Stele, die ihm zuletzt ein Versteck gewährt hatte. Ein kleines Schild wies mit geschwungenen Lettern darauf hin, dass es sich bei dem Gestrüpp um Stechpalmen handelte, welche sich durch die glänzenden, gezähnten Blätter und die roten Beerenfrüchte, welche sie von September bis November ausbildet, auszeichnet. Schräg grinsend kippte Bernhard den Kopf zu Seite.
Einen letzten gedankenverlorenen Blick in Richtung Klinik gewährte er sich noch, dann stahl er sich davon.
„Wir bleiben standhaft! Trotz Nebel und Schmuddelwetter – besuchen Sie Eatrichs Wochenmarkt.“
2
Elke liebte es dem ersten Zwitschern der Vögel zu lauschen. Dass sie sich „Guten Morgen“ zu sagen schienen, brachte stets ihr Blut in Wallung und ließ sie ein wenig beschwingter den Weg zur Arbeit nehmen.
Trotz der heute herrschenden unheimlichen Stille, die scheinbar kein Ende nehmen wollte, bewegte Elke ihre schwere Gestalt fast anmutig über die gepflasterten Wege, denn obgleich der geliebte Morgengruß ihr heute nicht vergönnt war, sah sie keinen Grund dafür sich unwohl zu fühlen. Stattdessen summte sie verträumt in sich hinein, zum Takt der Absätze, die dumpf in ihren Ohren wider halten.
Nun trennten sie nur noch wenige Schritte zu ihrer neuesten Arbeitsstelle und obgleich sie in diesem Örtchen aufgewachsen war, fühlte sie sich inzwischen eher wie eine „Zugehuckte“, wie ihre Mutter stets zu sagen pflegte.
Denn wie das vermutlich in Kleinstädten so üblich war, wurde es schon fast mit Argwohn betrachtet, verließ man seinen Heimatort, um sich „in der Ferne zu verwirklichen“; nicht ihre eigenen Worte sondern dem „Willkommensartikel“ in der Eatricher Tagespresse entnommen, der, wie um Elke täglich an das nicht abebben wollende befremdliche Gefühl der Nachbarschaft zu erinnern, immer noch im Aushang des Rathauses zu sehen war. Entgegen ihrer familiären Wurzeln und obwohl ihr Großvater hier einige Felder in der Umgebung besessen hatte, war es nicht leicht für sie in dieser Stadt erneut Fuß zu fassen.
Es war schon erstaunlich was sie hatte durchmachen müssen, um hier ihre Arbeit als Sekretärin auf dem Polizeirevier anfangen zu dürfen. Eine Halbtagsanstellung auf Probe, in welcher Elke regelmäßig mit den Worten „zu meiner Zeit haben wir das aber anders geregelt“ daran erinnert wurde, weshalb sie doch lieber nicht zurückgekehrt wäre.
Es fing schon damit an, dass man sie sehr gebeten hatte, doch nun auch ortsansässig zu werden (nein, man konnte hier nicht einfach nur arbeiten und in einer größeren, interessanteren Stadt wohnen), um ein wirklich produktives Mitglied der Gemeinde zu sein. Sie wusste schon weshalb sie Eatrich keine Träne nachgeweint hatte, denn Elke hasste solche kleinen Städtchen – viel zu wenig los, als dass man sich hätte abendlich amüsieren können und viel zu viel Getratsche, was das Ausleben der eigenen, wahren Persönlichkeit auch nicht eben einfacher machte. Nicht das Elke eine dunkle Seite besessen hätte, aber die Vorstellung davon gefiel ihr. Um sich nicht vollkommen in ihrer monotonen Arbeit zu verlieren, war sie vor einigen Wochen als Lektorin der Tagespresse beigetreten. Was, wie sie schnell feststellte, nicht minder eintönig war, ihr aber die Gelegenheit gab auch ab und an den einen oder anderen Artikel beizusteuern.
Doch trotz allem hatte sie nun mal ihrer Mutter den Gefallen tun wollen, besagte Stelle anzunehmen und so die Familienwurzeln wieder zurück „nachhause“ zu bringen.
Und ein „Nein“ wäre unverzeihlich gewesen!
Ihre Mama, eine Gebürtige, wie diese gern betonte, war selbst einst als Lehrerin in Eatrich tätig gewesen und des Mannes zuliebe letztlich fortgegangen, was man ihr allgemein wohl sehr verübelte, wie Elke nun beinahe täglich während ihrer Besorgungen oder auch auf der Arbeit von den altansässigen, braven Bürgern zu spüren bekam.
„Wie kann man nur aus freien Stücken einfach alles hinwerfen und einen solch wunderbaren Ort verlassen?!“
Nach dem Tod des Mannes hatte sich Elkes Mutters dies auch oft gefragt, was sie schließlich zurück nach Eatrich zog.
Nur das kleine Haus, was schon die Großeltern bewohnt hatten, konnten sie nicht mehr beziehen und mussten nun mit einer der Mietwohnungen im „neuen Bezirk“ Vorlieb nehmen. Das brach der armen Frau Mama fast das Herz und so flehte Elke, die stets alles für ihre Mutter tat, den Bürgermeister regelrecht auf Knien an der guten Alten doch ein Zimmer in der hübschen Residenz zum Frieden zu gewähren, wo sie bestens umsorgt wurde und sie täglich auf die geliebten Felder Eatrichs blicken konnte.
Nun da die Mutter glücklich und zurück im Kreise ihrer früheren Freundinnen war, bewohnte Elke allein eine Zweiraumwohnung in der neuen Siedlung im Nordwesten der Stadt, die eigens für die Mitarbeiter des frisch renovierten und neu eröffneten Klinikums errichtet wurden war.
Eine schöne Siedlung war es, wenn sie auch fast komplett leer stand, was Elke immer leicht erschaudern ließ, ging sie abends nachhause. Doch mit dem Zuwachs an Patienten, „nein, natürlich Kurgästen“, brummte Elke in sich hinein, wuchs auch die Zahl an Personal im Haus Instenburg, was ihr, so hoffte sie inständig, ein paar neue Bekannte und interessante Gespräche einbringen würde. Denn sie zählte sich mit ihren 42 Jahren noch lange nicht zum alten Eisen und erhoffte sich mehr Abwechslung in dieser verstaubten kleinen Stadt. Das sie auf dem Weg zur Arbeit oder zur Mama auch stets am städtischen Friedhof vorbeikam, beeindruckte sie hingegen weniger, da sie diesen in ihrer Jugend gern aufgesucht hatte, um zu lesen und diese ganz eigene Stille zu genießen, die nur in diesen speziellen Flecken zu finden war. Sie betrachtete dies nicht als morbiden Charakterzug, sondern vielmehr als das Sehnen nach einer Zuflucht vor den sie stets verfolgenden Blicken der Kleinstadtbewohner. Sie konnte es nicht beweisen, schon damals nicht, doch das Gefühl unter Beobachtung zu stehen, beurteilt, möglicherweise sogar verurteilt zu werden, ließ sie nie ganz los.
Ein altes Jägerrelief, in Holz geschnitzt, mit den Worten Der liebe Gott sieht alles, aber Nachbarn sehen mehr, welches sie in Kindertagen im Haus der Großeltern schon an der Eingangspforte zu begrüßen pflegte und dass auch heute noch im Zimmer ihrer Mutter auf sie wartete, hatte Elke tiefer geprägt als sie sich einzugestehen vermochte.
Das Gefühl unter ständiger Beobachtung zu stehen, wollte sie auch an diesem Morgen nicht in Frieden lassen und so blickte sie sich nichts sehend nochmals um, bevor sie schließlich in den videoüberwachten Gebäudeeingang schlüpfte, während ein starres Paar Augen sie mit Interesse verfolgte.
***
Im Zuge der letzten Bürgerversammlung hatte die Stadt nahezu einstimmig den Beschluss zur Überwachung der Eingangsbereiche behördlicher Gebäude getroffen. Den Ladeninhabern und Vereinsbetreibern blieb es freigestellt entsprechend nachzuziehen. So geschah es nun, dass Eatrich, eine Stadt, in der die größte öffentliche Aufregung beim Erhöhen der Einwohnerzahl aufkam, rundum mit Kameras ausgestattet wurde, da es keine Straße ohne Geschäfte oder Gemeinschaftsbereiche gab. Denn obgleich natürlich nicht unweit von Eatrichs Kreisverkehr- und Einbahnstraßensystems, welches zwar ungeplant, aber effektiv die Notwendigkeit einer Umgehungsstraße, wie sie von unzähligen Ortschaften teilweise über Jahre erfolglos gefordert wurde, obsolet machte, noch andere, größere Ortschaften lagen, die ausgestattet mit ganzen Einkaufs- und Erholungszentren zum allgemeinen Zeit- und Geldvertrieb einluden, wurde dem Erhalt der stadtinternen Ökonomie und Unabhängigkeit ein immenser Wert zugesprochen. Dies führte zu stetem geschäftigen Treiben in allen Gassen und seit dem Beschluss nun auch zur allgemeinen Wohnraumüberwachung. Lediglich der Whisky-Klub entzog sich dieser Maßnahme, da die Herren des Ortes „sowieso nicht Jedermann Zutritt gewähren“, denn sie sahen sich in einer gesellschaftlichen Sonderstellung.
Der Ausdruck vom Gemeinschaftsgefühl sollte schon beim Stadttor anfangen, welches die Einwohner und Gäste der Stadt, dem Bahnhof gleich, mit den Worten „Willkommen in Eatrich, hier bin ich Mensch, hier fühl ich mich wohl!“ begrüßte.
Die kleine, asymmetrische schwarzweiß befellte Katze, welche ihren allmorgendlichen Rundgang unterbrochen hatte, um der Gestalt zu folgen, die es gewagt hatte durch den Nebel zu streifen, stierte noch einen Augenblick gebannt auf die nun erleuchten Fenster des Polizeireviers, bevor sie sich weitertrollte. Wie jeden Tag zog sie ihre Kreise um die Stadtmitte, hielt am Marktplatz inne, wo bereits die ersten Stände geputzt wurden und für sie immer eine Leckerei abfiel, um dann über den Spielplatz östlich des Stadtkerns in Richtung Felder zu ziehen und sich gemeinsam mit den Mäusebussarden der Kleintierpopulation anzunehmen.
***
Während sich nun die Einen in den frühen Morgenstunden entweder noch einmal umdrehten, um dem Tagesbeginn mit der nötigen Ignoranz entgegen zu treten und die Anderen sich in vollem Arbeitseifer geschäftig durch den Nebel bewegten, um ihrerseits die widrigen Umstände gekonnt zu ignorieren, klingelte auf Polizeiwache bereits das Telefon; die Rühlich Jungen seien verschwunden, hieß es.
Artikel 2
„Zwischen Brunft und Rausche – Naturschauspiel und Achtsamkeit.“
Endlich war es wieder soweit.
Mit Begeisterung wurde auch diesmal an der Abstimmung zum Tier des kommenden Jahres teilgenommen – der Dachs (Meles meles).
Natürlich gibt es zahlreiche Dinge über dieses durchaus possierliche Tier zu berichten und jedermann kann sich ab heute an den entsprechenden Informationstafeln am Rathaus und innerhalb des städtischen Parks erfreuen.
Besonders hervorzuheben scheint der Dachsbau selbst, denn diese beachtliche Wohneinrichtung, ausgestattet mit Speisekammer, Kinderstube und extra Schlafbereichen, lädt zuweilen auch andere Waldbewohner ein, welchen dann unter Erschaffung neuer Innenwände eine eigene Stube gewährt wird. Ganz auf nachbarschaftlichen Frieden bedacht, können dadurch Dachs, Fuchs und auch Brandgans eine friedliche Koexistenz führen.
Dieser faszinierende Umgang mit Hausgästen stellt allerdings ein Problem für ungebetene Gäste, wie beispielsweise dem Jagdhund, dar. Da diese unter Umständen eingeschlossen werden.
Die Tagespresse möchte diese Gelegenheit nutzen, um erneut auf das richtige Wanderverhalten hinzuweisen. Wie den neuesten Einwohner unserer schönen Stadt vielleicht noch nicht in voller Gänze bewusst ist, gilt der den Stadtpark umschließende Wald als Naturschutzgebiet. Dementsprechend möchte sich der wackere Wanderfreund bitte an die vorgeschriebenen Wanderrouten halten und natürlich nichts dem Wald entnehmen oder darin zurücklassen!
Abschließend möchte das Park- und Kulturkomitee an dieser Stelle nochmals Dank an die Mitglieder der Bezirksgruppe vom Naturschutzverband aussprechen für die sehr informative Veranstaltung und die Möglichkeit aus sicherer Entfernung dem Brunftverhalten unseres Rotwildes zu lauschen, denn auch in diesem Jahr wurde die gemeinsame Dämmerungswanderung durch den Eatricher Park reich besucht.
3
„Mist… jedes Mal!“, Maria konnte über sich nur noch den Kopf schütteln, denn obgleich sie bereits vor Beginn ihrer Tätigkeit mehrfach durch die Räumlichkeiten des Haus Instenburg geführt wurde, fand sie sich nach wie vor kaum zurecht. „Was natürlich auch daran liegen könnte, dass das hier nem Labyrinth gleichkommt!“, zischte sie nicht minder irritiert.
Die Klinik, gepresst in eine Villa, Baujahr 1931 und noch im originalen gelben Backsteinkleid mit roten Klinkerumrandungen an Fenstern und Eingangspforte, so hatte man ihr mit nicht wenig Stolz berichtet, glich von außen immer noch viel eher dem Hotel, dass es ursprünglich einst gewesen war. Das Gebäude fügte sich mit den dazu gehörigen Parkanlagen, die eingezäunt hinterm Haus lagen und lediglich den Gästen zur Verfügung gestellt waren, problemlos in das Bild des Eatricher Stadtparks ein. Eine Privatstraße, welche entlang des Parkrandes den Zugang zum Gelände per Bring-Dienst ermöglichte, gab dem Haus Instenburg so ein fast schon hochherrschaftliches Ambiente.
So recht wusste Maria nicht, weshalb sie gerade in dieser Einrichtung ihr praktisches Jahr absolvierte. Instenburg verfügte zwar über eine internistische Abteilung, war aber auf eine Klientel mit psychosomatischen Störungen und neuropsychologischen Erkrankungen spezialisiert. Obgleich eine Erweiterung des Hauses anstand, vermutlich für die Behandlung von Suchtkranken, zumindest nahm Maria dies an, bot die Klinik nicht unbedingt ideale Bedingungen für ihr berufliches Fortkommen. Auch entsprachen die gebotenen Aufgabenbereiche nicht ihrem momentanen Interessengebiet. Unglücklicherweise gab es derzeit keine offenen Stellen in rein neurologischen Abteilungen; das wurde ihr zumindest von verschiedener Seite wiederholt erklärt. Letztlich blieb Maria nichts anderes übrig als der Empfehlung, dem Wunsch ihres Vaters nachzugeben.
Die Diskussion um ihre berufliche Zukunft dauert bereits Jahre an und so wurde aus den Worten „Solange du unter meinem Dach lebst…“ mit der Zeit „Solange ich für dein Studium aufkomme…“ bis hin zu „Solange du offensichtlich keinen Schritt alleine gehen kannst…“ und Maria, steht’s dankbar für die Unterstützung ihrer Familie, nahm, wenn auch Zähneknirschend, die Stelle im frisch eröffneten Haus Instenburg unter der Leitung von Herrn Dr. med. Hinterseer, einem Studienkollegen ihres Vaters, dem sie selbst bisher nie begegnet war, an.
Die Führung durch die Klinik hatte sie am ersten Tag mit Hinterseers rechter Hand gemacht. Dr. Embrich, ein hagerer Mann undefinierbaren Alters, mit lichter werdendem, graumeliertem Haar, welcher ihr für einen Psychiater doch recht einsilbig erschien. Aber vielleicht rührte sowas auch vom vielen Zuhören her und ergab sich, wenn man einen solchen Beruf lange genug ausübte. Ein Gedanke, den Maria zumindest für die Zeit ihrer Anstellung beiseite zu schieben gedachte, da dieser ihr fast schon Angst machte, wenn sie ehrlich war; zuhören, Verständnis aufbringen oder wenigstens so zu tun, lag ihr nicht einmal bedingt. Das hatte sie wohl einfach nie gelernt, griente sie in sich hinein und war erneut falsch abgebogen. Sich ständig in den eigenen Gedanken zu verlieren, führte sie noch immer wortwörtlich über Umwege und in Sackgassen.
Erneut musste Maria an Charlotte Lessner und den vorherigen, den verdammten vorherigen, Tag denken. So war sie zwar wieder einmal nicht ihrem neuen Chef, aber doch einigem Ärger begegnet und zu allem Überfluss erneut der Erkenntnis, dass es wohl keine gute Idee gewesen war, gerade in dieser Einrichtung anzufangen. „Ich hätte es wissen müssen!“, erklärte sie dem Flur, „Das Gesinge, ihr merkwürdiges Verhalten, der abwesende Blick… verdammt!“
Ein Luftzug ließ kurz verharren und unsicher um sich blicken. Denn sie war am Vortag durch ungehaltenes Räuspern aus den verbalisierten Selbstzweifeln gerissen wurden und wollte dies nicht noch einmal erleben müssen; nie wieder!
„Dr. Embrich, tut mir leid, der Nebel, ich, ähh…“, hatte sie zu stottern begonnen, aber er unterbrach sie mit einer einzigen unwirschen Geste seiner großen, knöchernen Hand. „Frau Walder ich muss Ihnen sicherlich nicht erklären wie viel Wert unser Unternehmen auf Disziplin und Pünktlichkeit legt. Sie können sich glücklich schätzen eine Stelle bei uns bekommen zu haben, und die verdanken Sie weiß Gott sicherlich nicht Ihrem Können.“
Maria konnte darauf nur noch betreten zu Boden schauen. Ihr war bewusst, dass man früher oder später ihren Vater ins Spiel bringen würde, „…später wär mir lieber gewesen…“, murmelte sie gerade noch hörbar in sich hinein. Dr. Embrich schien dies zu ihrer Erleichterung nicht gehört zu haben. Maria wollte der Standpauke, sie hätte ihre Anstellung sowie den Studienplatz vorher lediglich ihrem Stammbaum zu verdanken und würde ohne den Einfluss ihres ach so berühmten Vaters eh nie etwas zu Stande bringen, zuvorkommen und klarstellen, dass sie nur durch ihre eigenen Leistungen überzeugen könnte, würde man sie einfach machen lassen! Und so hatte sie ihre Schultern gestrafft, den Blick gehoben und ihrem Gegenüber fest in die Augen geblickt: „Dr. Embrich meine Verspätung tut mir leid aber bei diesem Nebel ist es ja kein Wunder wenn man sich verirrt. Ich kann Ihnen versichern, dass es nie wieder vorkommen wird. Außerdem wäre ich Ihnen dankbar wenn Sie meinen Vater aus dem Spiel lassen würden. Er wird mit meiner Arbeit hier nichts mehr zu tun haben!“
Auch jetzt noch spürte Maria, wie ihr beim bloßen Erinnern dieses Moments eine leichte Röte über die Wangen kroch, doch sie hatte seinem Blick standgehalten, was sie noch immer mit Stolz erfüllte. Dr. Embrich hatte Maria dann aufmerksam gemusterte, so als wollte er versuchen in ihr Innerstes zu blicken; eine Erinnerung wiederum, welche ganz andere Rottöne in Marias Gesicht hinterließ.
Sich ein weiteres Mal absichernd, dass sie diesmal auch wirklich niemand beim Selbstgespräche führen gehört hatte, machte Maria entnervt auf dem Absatz kehrt, um sich erneut zielstrebig ohne Orientierungssinn in den nächsten Gang und durch eine weiße Flügeltür zu stürzen; das Schild „Betreten verboten!“ war ihr entgangen.
Noch bevor Maria sich der Tatsache, dass dieser Gang einige signifikante Unterschiede zum Rest der Klinik aufwies, vollkommen bewusst werden konnte, blieb sie wie angewurzelt vor einem Gemälde stehen. Das Portrait eines jüngeren Mädchens… eines Mädchens, was gerade erst in die Pubertät zu kommen schien… eines Mädchens, was jeden, der es anblickte, direkt in die Augen sah… eines Mädchens, welches schüchtern, vielleicht sogar unsicher, lächelte… eines Mädchens, „was aussieht, wie ich!“
Der Gang ist nur spärlich beleuchtet, versuchte Maria sich zu beruhigen. Doch noch bevor sie nach einer besseren Lichtquelle suchen konnte, blieb sie erneut wie erstarrt stehen. Dieses Mal war es wegen der donnernden Stimme, welche hinter ihr ertönt war:
„Sie haben hier nichts verloren!“
Ein stämmiger Herr mit lockigem, wenn auch weißem, Haar blickte Maria herausfordernd über eine dicke Hornbrille hinweg an. Sie erkannte ihn direkt, obgleich Dr. Hinterseer ihr bislang nur aus den schlicht gestalteten Klinik-Broschüren ruhigen Blickes entgegen gelächelt hatte.
Da Maria bisher immer wieder vertröstet wurden war, hatte sie inzwischen fast nicht mehr daran geglaubt, ihm je offiziell vorgestellt zu werden. Und offiziell war dieser Moment nun auch nicht gerade. Nun, da seine stierenden, grünen Augen nicht von ihr wichen, begann sie schweren Herzens ihre Einschätzung, der Chefarzt wäre sicherlich ein freundlicher Kautz, zu überdenken.
Eine Entschuldigung stammelnd, lief sie schnurstracks den Weg zurück, welchen sie gekommen war und hoffte inständig der Tag würde endlich ein Ende nehmen.
Den Gedanken, dass ihre Schicht gerade erst begonnen hatte, verdrängende sie.
***
Der erste Tag im sogenannten ‚neuen Zuhause‘ lag Charlotte noch schwer in den Knochen, obgleich im Grunde nichts von Bedeutung geschehen war.
Der Pfleger, Jack Irgendwas, hatte sie erst zur Rezeption begleitet und im Anschluss auf ihr Zimmer, als wollte man sicherstellen, dass sie nicht einfach wieder verschwand. Natürlich hatte Charlotte es sich nicht nehmen lassen ihren Eindruck der Gefangenenbegleitung bis hin zur Zellentür in durchaus hörbaren Worten zu äußern. Womit sie zum einen erwartungsgemäß einige entrüstete Blicke auf sich gezogen hatte, zum anderen aber auch Jacks peinlich berührten Blick und seine vielmehr in sich hinein gemurmelten, als an ihre Person gerichtete Aussage: „Nein, nein das ist zu Ihrer Sicherheit. Man verläuft sich hier schnell“.
Ein Schmunzeln beim Gedanken daran, konnte sich Charlotte auch jetzt noch nicht verkneifen.
Ein Herr Dr. Embrich hatte die Eingangsuntersuchung durchgeführt; ein kluger, durch alle Fassaden blickender Mensch. Eine Eigenschaft, die Charlotte eigentlich sehr zu schätzten wusste, aber welche im Augenblick, da ihre sonst so standhafte Außendarstellung in Gefahr schien, eher zu ihrer Verunsicherung beitrug.
Sie hatte nach der Episode am Vormittag nur wenig Zeit gehabt ihr glattes und doch augenscheinlich charmantes Selbst zu stabilisieren. Selbstkontrolle war für sie von größter Wichtigkeit und die Vorstellung, dass diese sie zu verlassen drohte, missfiel ihr; gelinde ausgedrückt. Ihr war bewusst, woran sie zu arbeiten und weshalb sie diese spezielle Klinik gewählt hatte, doch sie war nicht daran gewöhnt, um Hilfe zu bitten, beziehungsweise ernsthaft bitten zu müssen. Nein, alles, was nötig sein würde, wäre Zeit, um sich auszuruhen. Zeit, in der niemand etwas von ihr verlangte; zumindest war es das, was Charlotte dem guten Doktor mitteilte, nachdem er ihr etliche Fragen zum allgemeinen Wohlbefinden oder dessen Fehlen gestellt und ihre Reflexe, die Sensorik, Motorik und das Gleichgewicht überprüft hatte.
Für Charlotte war all das reine Routine: die Fragen, die Erstellung eines Zeitplans, die Tatsache, dass in den ersten Tagen, mit Ausnahme der festen Essenszeiten, so gut wie nichts darauf zu finden war, um den Kurgästen die Eingewöhnungsphase so angenehm wie möglich zu gestalten.
Zu oft war sie nun schon in solchen Einrichtungen gewesen; nur eben nie als Patient.
So saß Charlotte schließlich im Dunkeln ihres neuen Zuhauses, starrte aus den vergitterten Fenstern in den gerade anbrechenden Tag hinaus und hing ihren Gedanken nach. Obgleich sie seine Anwesenheit mit jeder Faser ihres Körpers spüren konnte, so wie das schon immer der Fall gewesen war, wenn andere Menschen sie umgaben – ganz gleich wie unauffällig sie sich zu benehmen wussten – reagierte sie nicht auf den Mann, der sie seit ein paar Minuten aufmerksam durch das winzige Fenster in der Tür beobachtete.
„Noch nicht auf den Hund gekommen – Polizei weiterhin auf Spurensuche.“
4
Bei Licht betrachtet, wirkte die Klinik sogar ganz beschaulich so im aufgefrischten Anstrich.
Nur zu gut konnte Bernhard sich an die Zeit erinnern, da das Gebäude im Leerstand Kinder zu allerlei Unsinn einlud. Denn wen fordern Verbots- und Eltern haften-Schilder nicht geradezu auf zumindest einen Blick zu riskieren?
Nun da die Nebelwand des Vortages weitergezogen war, hatte Bernhard sich nochmals aufgemacht, um nach dem Mädel im Hosenanzug Ausschau zu halten. Zu seiner Enttäuschung hatte diese diesmal nicht den Parkweg sondern den Klinik-Bringdienst gewählt und so war ihm nur ein kurzes Aufflackern ihrer Gestalt zwischen Wagen und Eingangstor geblieben. Kein Parfüm um die Nase, kein Hals zum Träumen und ihre Rundungen hinter einer Aktentasche verborgen; Zeitverschwendung!
Zeit war eine Sache, über welche Bernhard im Überfluss verfügte. Zeit war das Einzige, was er hatte. Alle Zeit der Welt, aber keine Idee, was damit anfangen.
Seit ihm seine Arbeit gekündigt wurde, „unbefristete Beurlaubung aufgrund von Unpässlichkeit“, wie es im genauen Wortlaut hieß, wusste er nicht mehr was Tun den lieben langen Tag. Vom Krankengeld ließ es sich gerade so leben seitdem er das Haus aufgegeben und gegen eine Drei-Raum-Wohnung im Nordosten der Stadt eingetauscht hatte. Dass das alte Mehrfamilienviertel nur spärlich besiedelt war, hatte die Stadtverwaltung nicht davon abgehalten ein weiteres Viertel für die neuen Nachbarn hochzuziehen, was Bernard nur recht sein konnte, denn er benötigte nicht noch mehr Menschen in seiner Umgebung mit denen er nicht reden wollte.
Die Stunden des Tages füllte er einstweilen mit Wanderungen durch den Stadtpark, denn er genoss die Ruhe, die ihm zumindest in den Vormittagsstunden gewährt wurde. Pünktlich nach Schulschluss und mit Beginn der hundeausführenden Spaziergänger erschien ihm der Park oft zu klein und so ließ Bernhard sich zuweilen bis in den Wald vertreiben. Zu seinen Gedanken, aber nicht in seinen Zeitplan passend, rannte ein kleiner Mischlingsrüde auf ihn zu und begann an ihm hochzuspringen. Natürlich kannte er dieses kleine Mistvieh. Jeder war dem Köter und seinem nicht lange auf sich wartenden Frauchens schon über den Weg gelaufen. Und wie immer hatte diese eine nicht ernstgemeinte Entschuldigung über „die freiheitsliebende Natur ihres kleines Lieblings“, nebst passenden Grinsen auf den Lippen, gepaart mit einem „doch bestimmt nachvollziehbarem“ Unverständnis für die Leinenpflicht innerhalb der Grünanlagen Eatrichs. Höflich nickend, musste Bernhard an den, in der Presse seit Tagen beweinten, verschwundenen Hund denken und daran, dass sollte dieses spezielle Exemplar irgendwann mal dem gleichen Schicksal zum Opfer fallen, dann vermutlich tatsächlich ein Verbrechen und nicht bloß ein Dachsbau der Grund dafür sein würde. Die Tatsache, dass wohl alle Bürger Eatrichs sich gegenseitig ein Alibi geben würden, da aber auch niemand dem Tier und seiner Misserziehung etwas abgewinnen konnte, brachte ein ehrliches Lächeln auf seine Lippen und ließ ihn pfeifend von Dannen ziehen.
Hingezogen fühlte Bernhard sich heutzutage immer öfter vom Teehaus und zu Emily, einer alter Jugendbekanntschaft, mit ihren strahlenden, weisen Augen und der schmalen Taille. Wenn er bei ihr einkehrte, konnte er für ein paar Stunden vergessen, weshalb er sich nirgendwo anders in dieser Stadt mehr Willkommen fühlte und zum Teil auch war. Es erschien ihm immer noch eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, dass er als einziger für das Ersetzen der Frontscheibe des Gastwirts aufzukommen hatte – schließlich war es nicht er gewesen, der hindurch gefallen war. Und überhaupt, er hatte den Krawall nicht losgetreten, sondern sich lediglich verteidigt, wenn auch nicht mit Worten.
Auf der sich anschließenden Stadtversammlung brach dann eine rege Debatte darüber los, ob es ab den Abendstunden einen allgemeinen Ausschankstop geben sollte oder am besten gleich das Unterbinden vom öffentlichen Alkoholgenuss. Am Ende wollte niemand mögliche Touristen verärgern und so traf es sich, dass für Bernhard ein von der Stadt abgesegnetes Konsums-Kontingent für das Gasthaus festgesetzt wurde; zu seiner eigenen Sicherheit!
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass man ihm einen Leitartikel in der Tagespresse gewidmet hatte und auch in dieser Ausgabe waren nur positive, aufrichtende und verständnisvolle Worte zu lesen. Man sollte meinen den öffentlichen Alkoholkonsum eines Einzelnen oder auch der Stadt vorzugeben, sollte ein wenig Aufregung wert sein, aber wie es sich nun mal in Eatrich verhielt, war es weder eine neue noch außergewöhnliche Maßnahme so etwas zu beschließen.
Einer der Gründe, aus denen Bernhard keinen Fuß mehr in den Gastwirt setzen wollte, war die Photographie von Regina, welche am rechten Außenplatz der Bar thronte.
Er hatte sie natürlich gekannt, so wie jeder in diesem Ort und das Bild, ein Portrait, welches das freundliche, leicht rundliche Gesicht einer rothaarigen Frau mittleren Alters zeigte, ähnelte Regina, zumindest der Frau, welche zuletzt auf ihrem Stammplatz gekauert hatte, nur im Entferntesten. Inzwischen lag ihr Tod drei Jahre zurück und dass sie ihre letzten Lebensjahre wohl nur noch zwischen Barhocker und Couch zugebracht haben konnte, war deutlich im aufgedunsenen Gesicht, dem wirren, dünnen Haar und den glasigen Augen abzulesen. Bernhard erinnerte sich noch gut an sie und wie er so auch alle Anderen. Die Erinnerung machte ihn traurig, denn zuletzt war nichts mehr geblieben, als Regina beim langsamen Sterben zuzuschauen. Man konnte nur noch wohlwollend lächelnd ihren immer wiederkehrenden Geschichten vom verlorenen Reichtum, dem verschwundenen Mann, den Fehltritten und abgebrochenen Therapieversuchen lauschen und sie ab und an nachhause begleiten, da sie betrunkener war als vorgegeben, an Abenden, wenn sie die Barkraft davon überzeugen konnte ihr „doch noch einen kleinen Extraschluck“ zu gönnen.
Das Wissen darum, dass man niemandem helfen kann, der sich nicht selbst helfen will, erschien Bernhard schon immer eine sehr beliebte Ausrede, obgleich er sich der Tatsache gewahr war, dass diese Aussage, diese Redensart, diese verfluchten Ausflüchte nicht von ungefähr kamen.
Nein, Bernhard wollte nicht so enden wie Regina. Wollte keine Photographie aus besseren Tagen werden und so weigerte er sich seit der absurden Stadtversammlung das Gasthaus weiterhin aufzusuchen. Nicht dass ihm der gute Vorsatz davon abgehalten hatte wenige Tage später morgens zusammengesackt auf dem Bürgersteig nahe seiner Wohnung aufzuwachen.
Bis heute war er Emily dankbar dafür war, dass ihr Lächeln ein verschmitztes und kein mitleidiges gewesen war, als sie ihn mit leiser Stimme weckte und darauf hinwies, dass das Stadtleben jeden Augenblick beginnen würde. Er hatte nur nickend und mit einem Grunzen seine Zustimmung äußern können, während sie ihn langsamen Schrittes nachhause begleitete. Damals wie heute war Bernhard davon überzeugt, dass die lieben Nachbarn sicher anders reagiert hätten, als Emily und vor allem als die kleine Katze, welche augenscheinlich geduldige Nachtwache geschoben und deren scheinbar strenger, aber gleichzeitig vorurteilsfreier Blick bis zu nächsten Ecke auf dem ungleichen Paar geruht hatte.
Nun war Bernhard also wieder auf dem Weg zum Teehaus. Eigentlich öffnete Emily ihren Laden erst in den Nachmittagsstunden, doch er hoffte, für ihn würde sie wieder einmal eine Ausnahme machen
„Bitte bleiben Sie auf den ausgeschriebenen Waldwegen!“
5
Gerade hatte sie ihn ansprechen wollen, doch da war Bernhard schon eingetreten ins Teehaus. Elke blieb nur noch der Anblick von Emily, welche ihr sanft zulächelte, bevor auch sie hinter der lindgrünen Milchglastür, mit dem zum Blatt geformten Knauf und den Blütenranken aus Holz, welche die ganze Abscheulichkeit umrahmten, verschwand.
Was Bernhard in ihr sah und wie es überhaupt dazu gekommen war, dass die beiden plötzlich so dicke waren, entzog sich Elkes Vorstellungskraft. Es war natürlich nicht so, dass sie Emily als Person, als Nachbarin ablehnte, als… ach wem wollte sie was vormachen? Emily und das verdammte Teehaus waren ihr ein Dorn im Auge.
Wie es sich in dieser, wie wohl jeder Kleinstadt, so ergab, kannten sich die drei schon von Kindesbeinen an. Sie waren keine Freunde, nicht einmal Spielkameraden. Allerdings gab es auch keinen Disput zwischen ihnen. Man traf sich halt ab und an zufällig, teilte die gleichen Schulmauern, nur zu verschiedenen Zeiten; sie waren unterschiedlichen Alters. Später zog dann jeder seiner Wege, was wiederum kaum ins Gewicht fiel.
Elke ging fort zum studieren, Emily auf Bildungsreise und Bernhard verblieb in Eatrich, um Polizist zu werden.
Da Elke zwischendurch immer mal wieder in der Stadt einkehrte, um ihre Familie zu besuchen, ergab es sich, dass sie eine lockere Freundschaft mit Bernhard und dessen Frau einging. Sie fühlte sich aufgenommen und freute sich jedes Mal mehr auch mit dem Rest seiner Kumpel Zeit totzuschlagen, den aktuellsten Stadtklatsch zu hören und so letztendlich irgendwie doch noch in Eatrich reinzupassen.
Wie erschrocken und enttäuscht war Elke schließlich gewesen, als sie nun zurückkehrte, um ihr Leben in dieser Stadt am Rande der Welt zu führen. Der letzte Besuch lag zwar schon ein paar Jahre zurück und wie das manchmal so halt so war, hatte sie es nicht geschafft den Kontakt zu ihrem Freundeskreis in Eatrich aufrecht zu halten, war aber davon ausgegangen, dass alles beim Alten geblieben war; so wie immer.
Oh, wie falsch konnte man doch manchmal liegen.
Den Freundeskreis gab es nicht mehr. Bernhard war geschieden und was aus seiner Frau und dem Kind geworden war, wollte ihr niemand erklären. Er selbst reagierte frostig auf ihre Nachfragen und hatte es schnell abgelehnt überhaupt noch mit ihr in Kontakt zu treten. Auch seine Arbeit hatte er aufgegeben. Obgleich in Elkes Augen noch Hoffnung bestand, da er lediglich krankheitsbedingt beurlaubt war. Ja und dann war da Emily. Weshalb die nichts Besseres zu tun gehabt hatte ein knappes Jahr vor Elke heimzukehren und Bekanntschaft mit ihrem Freundeskreis, zumindest mit dem einen Freund, zu pflegen, wollte sich Elke einfach nicht erklären. Sie hatte nur gehört, dass Emily irgendwie erkrankt war, aber nun heldenhaft geheilt schien oder zumindest sich nie beschwerte. Sie hatte das alte Café am Marktplatz übernommen und daraus diesen Teeladen gemacht; vollgestopft mit Kerzen, Figuren, Symbolik – alles in knallbunten Farben.
Elke konnte mit diesem ganzen innere Ruhe-, Meditation- und Seelenfriedenquatsch nichts anfangen. Doch Emily hatte offenbar genug Gäste, um den Laden offen zu halten und zu Elkes Entsetzen war sie sehr beliebt unter den Nachbarn; selbst ihre Mutter lächelte selig beim Gedanken an das verfluchte Teehaus.
***
„Wer war deine neue Bekanntschaft?“, fragte Elke leicht angespannt, da sie versuchte gleichgültig dem Gedanken gegenüber zu wirken, dass die Dame mittleren Alters möglicherweise nur aufgrund ihres Erscheinens so plötzlich gegangen war.
„Ach, das ist Ruby. Sie ist nur ein wenig schüchtern.“, erwiderte ihre Mutter vergnügt, während sie die kleine schwarzweiße Katze scheinbar geistesabwesend streichelte. Kurz wollte Elke auf den Umstand eingehen, dass das Tier ihr irgendwie bekannt vorkam, doch sie verwarf die Frage nach der Herkunft der Katze kurzerhand, denn die Tatsache, dass ihre Mutter, welche sich seit ihrem Einzug in die Residenz, und trotzdem sie hier doch Freunde haben sollte, sehr zurückgezogen hatte und Gespräche mit jedem außer der eigenen Tochter abzulehnen schien, plötzlich interagierte, verwunderte Elke erheblich. Natürlich erfreute sie es noch mehr, aber insgeheim genoss sie die alleinige Aufmerksamkeit ihrer Mutter ein wenig, auch wenn sie sich darüber fast täglich zu beschweren pflegte.
„Wohnt … Ruby hier? Sie erscheint mir doch ein wenig zu jung.“, den Nachsatz ‚für ein Altersheim‘ verkniff Elke sich gerade noch.
„Nein, ehm… eigentlich schon. Sie hatte ihren Vater die letzten Jahre mitversorgt.“
„Ja, aber dafür gibt es doch das Personal hier. Sicher sehen die das nicht gerne, wenn man sich in ihre Arbeit einmischt?“ Elke hatte den Blick abgewendet und in Richtung Hauseingang geblickt, weshalb sie das kurze Aufflackern von Irritierung in den Augen ihrer Mutter nicht wahrnahm. Der Katze allerdings war die angespannte Haltung der alten Dame nicht entgangen und so leckte sie dieser für ein paar Augenblicke die Hand ab, stieß schließlich das Köpfchen hinein und schloss erst wieder die Lider als der Griff von Frau Unmut wieder entspannter wurde.
„Es war der Wunsch ihres Vaters gewesen. Auf die Wünsche der Residenzbewohner wird hier im Allgemeinen Rücksicht genommen.“, schnaufte diese nur kurz, bevor ihr Lächeln zurückkehrte und sie sich erneut verträumt im Garten umsah.
„Ja, natürlich tun sie das. Man bezahlt sie schließlich gut genug“, brummte Elke.
„Und Ruby ist eine sehr interessante Gesprächspartnerin. Sie hat viel erlebt und zu so unzähligen Dingen eine geschulte Meinung.“
Frau Unmut betonte ‚geschulte Meinung‘, da sie ihre Tochter kannte und setzte, ohne deren Bemerkung abzuwarten, nach: „Auch ist sie lustig, obwohl man merkt, dass ihr der Verlust des Vaters schwer zu schaffen macht… ach, sowas ist immer tragisch… das Verlieren eines geliebten Menschen, ganz gleich wie.“
„Und sie wohnt noch immer hier?“ Elke wirkte ein wenig unsicher; tat sie nicht ausreichend genug für das Wohl der eigenen Mutter?
„Ja, sie leistet den älteren Herrschaften, wie du es ausdrücken würdest, Gesellschaft, deshalb bekommt sie hier weiterhin Kost und Logis. … Nu guck nicht so! Sie ist nett und außerdem nicht mehr lange da.“
„Will sie doch wegziehen? Das eben klang…“ ‚als könne man sie hier erst im Sarg wieder raustragen…‘, dachte sich Elke und ließ den Satzanfang im Raum hängen.
„Nein, aber sie wird bald sterben, hat sie gesagt.“
„Oh, das tut mir leid. Ist sie krank? Wie lange hat sie noch?“, verzweifelt versuchte Elke ihre vorherigen Gedanken zu vertreiben und der Situation entsprechend mit der nötigen Andacht zu reagieren; so wie sie es gelernt hatte.
Bis ihre Mutter schließlich nachschob: „Sie ist nicht todkrank, sie wird nur sterben, hat sie gesagt… Da das Leben keinen Sinn ergibt.“
Darauf verflog der angestrebte Anstand wieder und Elke fragte nur: „Und wann wäre das soweit?“
„Sobald Ruby das Leben versteht.“
Noch bevor die Unterhaltung einen klärenden Abschluss finden konnte, sprang die Katze kurzerhand auf und rannte davon, entgeistert sahen ihr die Unmuts nach, bis das Blaulicht des Streifenwagens ihre Aufmerksamkeit nach Norden und in Richtung der Felder richtete und sie so nun ein ganz anderes Thema für eine im Kreise laufende Gesprächsführung bekamen.
***
Bernhard hatte gerade noch Zeit den roten Rucksack fallen zu lassen und einen Schritt zurück zu treten bevor das fahle Licht der Taschenlampe ihn vollends erreichte.
„Oh mein… Bernhard, was zur… Sind sie hier? Hast du sie gefunden?“, als dem Wachtmeister nur ein Knopfschütteln entgegnet wurde, setzte dieser nach mehrmaligen Räuspern mit nun leicht gebrochener Stimme nach: „Bernhard Wagner ich muss Sie bitten mich zur weiteren Befragung aufs Revier zu begleiten.“
Artikel 3
„Wir atmen wieder auf.“
Eatrich kann endlich wieder zur wohl verdienten Ruhe kommen; die Rühlich Knaben sind in den frühen Morgenstunden wohlauf zuhause eingetroffen.
Laut Oberwachmeister Klausner hatten sich die Buben, welche während eines Schulausflugs am gestrigen Tag in den Stadtwald, verschwunden waren (die Tagespresse hatte darüber in einer Sonderausgabe berichtet), im alten Steinbruch ein Ford geschaffen. Sie hätten beim Spielen die Zeit vergessen und wollten natürlich nicht mitten in der Nacht durch den Wald; hieß es weiterhin.
Um in Zukunft zu verhindern, dass Kinder den Steinbruch mit einem Spielplatz verwechseln könnten, ist dieser bereits weiträumig abgesperrt wurden; über eine Permanentlösung wird in der nächsten Stadtversammlung entschieden.
An dieser Stelle sei erneut ein Dank an alle Nachbarn ausgesprochen, die die Polizei tatkräftig bei der Suche unterstützt haben oder auch mit aufrichtenden Worten zur Seite standen.
Der Schrecken sitzt uns allen natürlich noch im Nacken, doch wie heißt es so schön:
Jungs sind nun mal Jungs, nicht wahr?
6
Dieser verdammte Artikel gepaart mit dem „Reisebericht“ der Rühlich Geschwister (Kinderbilder – Gekrakel in Bernhards Augen) hatte fast zwei Monate öffentlich ausgehangen, bevor die Kollage zum Voranschreiten der Schulgebäudesanierung interessanter erschien und den Artikel mitsamt dem dazugehörigen Stadtgespräch abgelöst hatte.
Zwei Jahre lag das Kleinstadt – Drama nun zurück und allgemeines Vergessen hatte sich über die Gemeinde gelegt; bis heute!
Bernhard selbst konnte sich an diese paar Stunden allerdings noch nur zu gut erinnern. Er verlor halb den Verstand während des ganzen in Tränen aufgelöste Mutter und Lehrerin beruhigen, Kindern Geschichten erzählen, Suchtrupps organisieren, den Wald durchkämmen, die letzte entscheidende Unterhaltung mit seiner Frau führen.
Natürlich war es nötig, dass die Stadt einen Sündenbock vorweisen musste, das konnte Bernhard sogar noch verstehen. Die Absicherung von Baustellen und leer stehenden Werken, wie dem ehemaligen Steinbruch fielen, laut Stadtbeschluss, unter den Aufgabenbereich der Polizei; die Kette vor dem Zugang nebst Hinweisschildern kam aber wohl eher einer Einladung gleich, „und doch sicher nicht nur für die beiden sieben Jährigen Buben“. Dies hatte man im Nachhinein zumindest erklärt.
Dass Bernhard und seine Karriere, sein guter Ruf, letztlich seine Ehe dabei unter die Räder gerieten, entpuppte sich als „unglückliche, unvorhersehbare, kaum entschuldbare Nebenerscheinungen, die niemanden vorzuwerfen waren oder? Und Herr Wagner könne sich doch glücklich schätzen, dass sich die Stadtverwaltung sogar öffentlich dafür ausgesprochen hatte, dass man ihm keine nachweisbare Schuld zusprach, dass lediglich ein zu freimütiger Umgang mit der Geländeabsicherung die Ursache für das Verhalten der Kinder gewesen war, denn schließlich nutzen Kinder alle Freiheiten, die ihnen gegeben werden.“
Dass es diesen speziellen Knaben auch an Erziehung mangeln könnte oder dass das Lehrpersonal (die eigene Mutter) ihre Aufsichtspflicht verletzt hatte, wurde getrost ignoriert. Bernhards entsprechende Anmerkung führte dann noch zum Einzug seiner Mitgliedschaft im Whisky Klub, denn: „die Rühlichs sind eine angesehene Familie, welche im Stadtverein stets beachtliche Beiträge leistet. Auch soll doch der Brunnen am Marktplatz im kommenden Jahr wieder in Stand gesetzt werden, da kannst du doch nicht solche haltlosen Beschuldigungen in die Welt setzen…“ und brachte das Fass seiner eh schon angeknacksten Ehe zum überlaufen, denn Heidrun Rühlich’s „Namen so in den Dreck zu ziehen, ist mal wieder typisch. Als ob du wüsstet, wie schwierig die Erziehung von Kindern ist; du bist schließlich nie hier, um es zu merken!“
Ja, Bernhard hatte jedes Recht wütend zu sein auf die Jungen und deren Familie, sogar auf die Stadt selbst, denn „jeder hat Verständnis für deine Situation, aber warum jetzt? Warum nach so langer Zeit? Liegt es daran, dass sie wieder geheiratet hat? Wo hast du sie versteckt? Sprich mit uns, verdammt!“
***
„Hast du schon gehört? Die Rühlich Jungen sind weg… und diesmal wirklich…“, das Stimmengewirr und die Blicke der Stadt lagen nun wieder auf Bernhard, klebten in seinem Nacken, durchbohrten ihn fragend, ja wissend. Denn die Meinung Aller wiegt schwer.
„(K)ein Abenteuerspielplatz“
7
Marias Gesicht war noch immer hochrot vor Scham, obgleich der Zusammenstoß mit Dr. Hinterseer bereits einige Stunden zurücklag, aber da die Röte stets wieder aufzuflammen schien, begegnete sie einem der Ärzte, beschloss Maria, dass der unschöne Schichtbeginn Schuld an ihrem unmissverständlichen Hautton war. Die Tatsache, dass ihr der verfluchte Gang mit diesem seltsamen Gemälde nicht aus dem Kopf gehen wollte, tat ihr Übriges.
Während sie auf die nächste Aufgabenzuteilung wartete, genoss Maria die Sonne im Klinikgarten, welche zu dieser Jahreszeit zwar nicht mehr besonders kraftvoll war, jedoch eine willkommene Abwechslung zu dem nebelverhangenen Vortag darstellte. Nur wenige Menschen befanden sich draußen, da bereits die Mittagsrunden begonnen hatten. Auch wenn es zum Kuralltag beziehungsweise zur Therapiebegleitung gehörte die Patienten an feste Mahlzeiten nach vorbestimmten Zeitplänen zu gewöhnen, respektive dies vielmehr von ihnen zu verlangen, kam Maria nicht umhin, sich daran zu stören. Sie würde sich im ersten Moment bestimmt gegen solche Zwänge zur Wehr setzen. Schon aus Prinzip! Pünktlichkeit war das Eine, aber jemanden vorzuschreiben, wann dieser was zu essen hatte? Nicht, dass sie das nicht nur zu gut von Zuhause kannte. Aber das erwachsenen Leute abzuverlangen? Ihre Essenszeit selbst einzuteilen, war eine der Freiheiten, die Maria seit ihrem Studium so sehr genoss, dass sie ganze Gespräche zu diesem Thema führte.
„Öffne lieber deine Augen, wenn du schon auf dem Weg rumstehen musst, manch einer könnte sich sonst wohlmöglich einen Spaß erlauben.“, riss sie eine leicht belustigt klingende Stimme aus den Gedanken. Jack Trevor, in seiner Aufgabe als Oberpfleger, hatte die Verantwortung übernommen Maria bei der Einweisung in Arbeitsabläufe oder für sonstige Fragen zur Seite zu stehen. Das Haus Instenburg war ein recht kleiner Betrieb und das Personal entsprechend überschaubar, somit blieb den diensthabenden Ärzten kaum Zeit für die Einführung neuer Kollegen. Normalerweise hätte Maria es vorgezogen direkt unter den Doktoren der internistischen Abteilung zu lernen, jedoch schien ihr Nervenkostüm dafür nicht bereit; jedenfalls nicht am heutigen Tag.
Dass sie an Jack bereits nach ihrer ersten Begegnung Gefallen gefunden hatte, trug zwar nichts dazu bei die Schamesröte zu verlieren, heiterte sie jedoch genug auf, um diese in seiner Gegenwart ignorieren zu können. Zumal Maria davon ausging, dass ihr strahlendes Lächeln und die vom Makeup fein betonten Augen für sich selbst Sprachen, zumindest war das eine Erfahrung aus Universitätsjahren, an welche sie nur zu gern zurück dachte.
„Mist verdammter…!“, ein Sturz über ihre eigenen Füße holte Maria zwar aus den Wolken, aber beförderte sie schnurstracks in Jacks Arme. Er schmunzelte nur, während er sie wieder aufrichtete: „Als ich gerade noch mit mir haderte dich heut Abend auf ein Bierchen einzuladen…“, flüsterte er schließlich und zwinkerte Maria unverhohlen zu.
***
Es ist dunkel! Warum? Es sollte Tag sein, nicht wahr? Es war eben noch hell; Sonnenschein, warme Brise, buntes Laub… nun… Kälte, klebrige Finger an meiner Haut… Was willst du!
***
„Hey, alles klar bei dir? … Verzeihung! Sind Sie in Ordnung?“, Charlotte begann sich mühselig aufzurichten, kalter Schweiß rann ihren Rücken hinab, als sie versuchte Marias fragendem Blick standzuhalten.
„Duz mich ruhig und lass die Höflichkeiten! Alles Andere wäre mehr als lächerlich. Meinen Sie nicht auch?“ Charlotte verabscheute solche Situationen! Immer zogen sie Erklärungen nach sich, denen sie seit Jahren aus dem Weg zu gehen versuchte. „Alles gut! Mir ist nur ab und an etwas schummrig. Schau nicht so!“, winkte sie Marias hilfereichende Hand unwirsch ab.
„Hey! Ich bin Doktor. … Ich werde es zumindest“, schob Maria zügig nach, da Charlotte zum Widerspruch ansetzen wollte. „Willst du dich hinlegen? Ein Glas Wasser? Hast du heute schon genug getrunken? Hast du das öfter? Bekommst du Medikamente? Wieso bist du hier?“
Ihr Wortfluss kam abrupt zu Stehen, denn zwei leicht zittrige Hände legten sich an Marias Hüfte und leiteten sie in Richtung Parkbank, wo sie schließlich verdutzt Platz nahm.
„Nein. Sobald ich im Haus bin. Ja. Ein paar Jahre. Nur bei Bedarf. Hypocobalaminämie.“, als ihr Gegenüber nur blinzelte, setze Charlotte nach: „Als zukünftiger Arzt solltest du dringend deine Anamnese-Technik ausfeilen. Selbst bei polizeilichen Befragungen wird den Leuten Zeit zum antworten eingeräumt“, grinste sie leicht schief und sah der nun recht sprachlosen Frau Dr. Walder in spe herausfordernd in die weit aufgerissenen Augen.
Maria brach in Lachen.
***
Das erste Mal an diesem oder auch den letzten Tagen, wenn sie ehrlich mit sich war, entwich alle Anspannung von ihr. Maria verzichtete sogar darauf dem Gedankengang über die Wichtigkeit von professionellem Abstand gegenüber den Patienten zu weit zu folgen.
Sie genoss Charlottes spitze Zunge und ihre Offenheit. Natürlich schien sie etwas seltsam, aber wer war das nicht irgendwie? Maria fühlte sich wohl, wenn auch erkannt. Im Normalfall versuchte sie genau das zu vermeiden, denn sobald die Leute der Meinung waren, sie durchschaut zu haben, zerbrach jede noch so zarte Bande mit ihnen. Meistens da die Einschätzung auf übereilten Urteilen ruhte, welche sie nie korrigierte. Vater hatte ihr immer gepredigt, dass „Wer sich erklärt, der lebt verkehrt!“, schließlich beruht die Notwendigkeit sich zu rechtfertigen auf dem Eingeständnis einer Schuldigkeit oder schlimmer noch Schwäche, und „du machst dich angreifbar, gibst du Anderen die Breitseite preis!“
„Dein Vater ist ein Idiot, wenn er ernsthaft der Meinung ist, solche Plattitüden lösen mehr als allgemeines Misstrauen gegen Jeden und Alles aus. Er hätte dir lieber beibringen sollen, wie man ehrliche Unterhaltungen führt und einschätzt, wem man was erzählen kann und sollte. Sicher sollte man wissen, wann man seine Ausführungen beenden muss, besonders dann wenn es Gründe gibt hinterm Berg zu halten. Aber Alles zu schlucken, ist sicher auch nicht der Weisheit letzter Schluss.“ Ja, Maria mochte ihre neueste Bekanntschaft. Zumal diese die erste war, seit ihrem Umzug nach Eatrich, in deren Gegenwart sie sich nicht wie ausgesetzt und vorgeführt, sondern verstanden und unterstützt fühlte. Vielleicht war sie tatsächlich älter als ihr Äußeres den Eindruck machte; sie würde bei Gelegenheit Charlottes Akte einsehen.
„Wieso musst du hier Patientin sein?“, stöhnte Maria und legte ihre Stirn in Falten, „Wenn du es dir nur genug wünscht, tauschen sich unsere Rollen vielleicht eines Tages.“, entgegnete Charlotte mit einem Zwinkern und ohne den ironischen Tonfall, der fast jede ihrer Äußerungen zu begleiten schien auch nur im Entferntesten abzumildern. Maria zog kurz die Lippen kraus, bevor diese zu einer verspielten Schnute wurden, welche sich wiederum zu einem breiten Grinsen formte.
Gerade da ihr ein passender Konter eingefallen war, ertönte ein lauter Pfiff aus Richtung der Klinik und Dr. Embrich deutete auf sein linkes Handgelenk. Was er damit ausdrücken wollte, konnte sich Maria nur zu gut denken. „Oh Mist! Ist ja nicht so als wäre er begeistert von mir. Verflucht…“, sprang sie auf, fühlte das Rot ihrer Wangen wieder aufflammen und stürzte zurück zum Haus.
„Warte!“, erhob Charlotte die Stimme, um Marias Selbstanklage zu übertönen, „Was genau wolltest du eigentlich von mir?“
„Ach ja, komm mit! Die wollten dir noch ein paar Fragen zu den Blutwerten stellen… Sorry.“
Die beiden Frauen kamen nicht weit.
„Was ist los?“ Ein wenig Sorge schien in Charlottes Stimme mitzuschwingen.
„Ehm, ich wundere mich bloß… Hast du die Katze hier schon mal gesehen?“, fragte Maria und zeigte gen Waldrand.
„Nein, aber sie gehört sicher zum Stadtbild. Viel zu gepflegt für ne Freilebende.“
„Glaubst du, dass sie als Therapietier genutzt wird? Darüber hab ich neulich war gelesen. Das soll sehr effektiv sein; beruhigend. Ich meine, geeignet scheint sie ja.“ Maria machte große Gesten und nickte sich selbstbestätigend zu. Als Charlotte sie lediglich verdutzt ansah, setzte sie nach: „Ich meine, schau…“, aus dem fragenden Blick wurde Erstaunen, „… das Mädel im Gras ist vorhin völlig ausgeflippt, als ich sie ansprach und jetzt… wow… die Ruhe in Person.“
Da sie ein lautes Hüsteln vernahmen, zogen sie weiter.
„Warst du irgendwie gestresst oder aufgeregt während du dich dem Mädchen genährt hattest?“, wollte Charlotte wissen. Maria blinzelte mehrfach und nickte dann nur, „Vielleicht hast du sie nur verschreckt. Bestimmt ist sie sehr empfindsam. Wir sind hier schließlich nicht einem einfachen Kurhotel. Wenn du ihr das nächste Mal über den Weg läufst, achte auf die Emotionen, die du aussendest.“ Auch darauf blieb Maria nur ein Nicken. Sie hatte noch viel zu lernen; vorzugsweise nicht nur von den Patienten.
„… denn als Gemeinschaft sind wir stark!“
8
Bernhard sah müde aus.
Die Kleidung gepflegt, aber zerknittert, denn er kauerte regelrecht auf seinem Platz, als wollte er seine hochgewachsene Statur verbergen. Die Hände im Schoß, zu Fäusten geballt. Die Schultern hängend, der Kopf leicht gesenkt. Sein Gesicht aschfahl und eingefallen. Er kaute angespannt auf seiner Unterlippe, während sein Blick prüfend über jeden Winkel des Raumes flog; aller Anschein von Autorität verflogen.
Elke hatte ihn bisher nur als einen starken, ja stolzen Mann gekannt. Obgleich sie mit Bernhard mittlerweile lediglich eine lose Bekanntschaft unter Nachbarn pflegte, hatte er bis zuletzt eine gewisse Größe ausgestrahlt; immer ein Scherz auf den Lippen, ein Zwinkern im Blick, welcher nie davor zurückschreckte sein Gegenüber herausfordernd anzusehen.
Doch alles was nach dem heutigen Tag geblieben war, war dieser Mann, das Häufchen Elend, dessen Blick nie Kontakt mit dem ihren aufnahm, der nur noch darauf zu warten schien, dass man ihn rettete.
Ihn retten… ja, das könnte sie tun! Sie wollte für ihn da sein! Mit ihm gemeinsam gegen dieses Nest und den Tratsch zusammenstehen! Ja, sie würde ihn nicht so fallen lassen, wie alle Anderen! Elke hatte die Blicke der Stadtbewohner gesehen, die Tuschelei gehört, als Bernhard für die Aufnahme seiner Aussage vom Steinbruch zum Revier begleitet wurden war. Das Raunen nahm weiter zu, da es anschließend zu seiner Wohnung ging, damit er der Hausdurchsuchung beiwohnen konnte. Für den Rückweg zur Stadion hatten sie schließlich einen Kollegen vorausschicken müssen, der die Stadtbewohner zur Ruhe anhielt.
Dieses verdammte Dorf!
Im Steinbruch fanden sich keine weiteren Spuren und der Rucksack gehörte nachweislich einem ganz anderen Kind – oh der Aufschrei war laut, als es hieß die Rühlich-Buben hätten diesen ein paar Tage zuvor entwendet gehabt und sich lauthals dafür gebrüstet, aber auch geweigert ihn wieder rauszurücken, denn „die dumme Heulsuse hatte es verdient! Was petzte die auch immer.“ Frau Mama und Oberlehrerin glättete wieder einmal die Wogen und wies daraufhin, „dass das noch lange nicht bedeutet Bernhard sei unschuldig!“ Natürlich ging auch die Durchsuchung seiner Wohnung hinweislos aus. Natürlich war es so und Elke würde das jedem sagen, der sie danach fragte!
Gerade wollte sie „ihrem Häufchen Elend“, wie sie ihn in Zukunft schmunzelt bezeichnen würde, genau das mitteilen, da schneite Emily zur Tür herein. Wer hatte die denn nun informiert? Und was ging die das überhaupt an? Elke kaute auf den Innenseiten ihrer Wangen und lächelte verkniffen, als sie Bernhards Entlassungspapiere aushändigte. Sie lächelte nicht mehr da sie nun allein zurück und mit ihren Gedanken für sich blieb.
Nein, Bernhard war nicht mehr derselbe Mann. Elke hatte stets geglaubt ihn zu kennen, fühlte sich wohl und aufgenommen in seinem Freundeskreis… fühlte noch viel mehr, obgleich sie es nie wagte diesen Träumereien zu weit zu folgen. Vielleicht war ja doch was dran… wann kam es schon mal vor, dass die gesamte Stadt sich einig war?
***
Ihre Schicht war zu Ende… Maria hatte den Tag überstanden; wie genau war ihr auch nicht recht klar.
Doch sie konnte stolz auf sich sein, zumindest ihrer Meinung nach, denn wenigstens kannte Maria nun alle Wege der Klinik und fand sich ohne Hilfe zurecht. So gut, dass sie nicht dem Zufall die Schuld geben konnte sich erneut vor der Tür des ominösen Ganges wiederzufinden. Es prickelte in ihren Fingern als sie hindurchtrat. Wie am Morgen war die Beleuchtung gedimmt, lediglich ein paar Notleuchten wiesen ihr den Weg.
Schon nach wenigen Schritten musste Maria leicht enttäuscht feststellen, dass das Portrait verschwunden war. An dessen Stelle hing nun eine Landschaftsmalerei. Trotz der spärlichen Beleuchtung wurde deutlich, dass es ein Fluss war, der sich da durch den Winterwald schlängelte. Kahle Bäume zäunten seinen Weg, spitze Steine ragten aus ihm heraus und Irgendetwas schwamm, nein folgte der Strömung… Maria wollte ihren Augen nicht ganz trauen, als sie das Etwas als einen roten Rucksack identifizierte.
Sie schüttelte sich kurz und rieb ihre Augen: „Was für eine morbide Fantasie?“, murmelte Maria als sie tiefer in den Gang trat und nach einigen Metern an der gegenüberliegenden Seite auf ein weiteres Bild stieß; eine Kohlezeichnung. Sie verschluckte ihren Kommentar, als sie ein kleines Mädchen erblickte, welches nur im Leibchen zwischen Gräbern saß, mit den Folgen eines Krieges im Hintergrund.
Tief luftholend zog es Maria weiter.
„Oh Gott! …“, mit der Hand über den Lippen zwang sie sich zur Ruhe. In strahlenden Farben, welche selbst im Dimmerlicht hervorstachen, eröffnete sich ein Torso mit den Organen in situs inversus. So etwas hatte sie nur einmal in der Pathologie-Vorlesung gesehen, als anatomische Zeichnung und dann auch nicht so detailverliebt. Als würde sie eine Photographie der inneren Organe, in ihrer spiegelverkehrten Lage betrachten. „Wahnsinn.“
Maria stolperte voller Anspannung weiter, nun wollte sie Alles sehen!
Ein Portrait, nicht das ihres Doppelgängers, starrte sie an.
Maria wusste nicht recht, ob sie erneut enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Schließlich stammten die Bilder alle vom gleichen Künstler und seiner abschreckenden Imagination; sie alle waren mit C.L.H. signiert.
Der Mann mittleren Alters, mit tiefen Ringen unter seinen blutunterlaufenen Augen, grimmigen Lippen und kurzen angegrauten braunen Haar, was in alle Richtungen abstand, war nichts, was Maria beruhigte.
Gegenüber des schaurigen Herren schmunzelte sie ein Mädchen im roten Pullover an. Sie hatte halblanges, dunkles Haar, tiefdunkle, alte Augen und ein Blässe, welcher Maria bisher nur einmal begegnet war. „Charlotte?“ Nein, das konnte nicht sein. Dieses bleiche Kind glich Charlotte vermutlich genauso wie ihre Doppelgängerin ihr oder der Mann irgendjemand anderem.
„Sowas kommt vor! Jeder hat einen Zwilling!“, krächzte Maria in keine bestimmte Richtung und entdeckte den Ihrigen direkt neben dem Mädel.
Erstarrt blieb sie wie angewurzelt davor stehen, Schweißperlen rannen ihr den Nacken hinab und klebten auch auf ihrer Stirn. „Hach! Du siehst mir gar nicht ähnlich! Hach den Lockenkopf trage ich schon seit Jahren nicht mehr! Hach!“
Maria setzte ein breites, wenn auch sehr schiefes Grinsen auf und stapfte erneut drauflos.
Sie würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, aber eine Zigarette wünschte sie sich nun sehnlichster denn je.
Kurz vor dem Zugang zum nächsten Klinikbereich entdeckte Maria einen Spiegel und drapierte sich davor.
„Die wollen wohl, dass man sich noch mal herrichtet nach dem Trip… nicht dumm.“
Ihr stockte der Atem, denn nicht sie, sondern eine Fratze mit weit aufgerissenen Augen und verschobenen Gesichtszügen blickte sie an.
Maria entfuhr ein markerschütternder Schrei.
Artikel 4
„Lasst uns Erinnern an die gemeinsame Zeit.”
Am Ende eines jeden Jahres erinnern wir uns oft und gerne an all die Dinge, welche wir erreichen konnten, an Zeiten, die Neues brachten und uns Abschied nehmen lies vom Alten und natürlich auch an all die Situationen, die zu meistern uns auch weiterhin beschäftigen wird und muss.
Ohne Frage sollte ebenso den Menschen, welche unser Leben bereichert haben und hoffentlich auch künftig werden, Erinnerung gebühren.
Ob diese uns bereits ein Leben lang begleiten oder auch nur ein Stück des Weges, ob es die Familie ist, alte Vertraute, neue Freunde oder prägende Fremde, jede Begegnung kann auf uns Einfluss nehmen. Denn andere Menschen können und werden den Lauf unser aller Lebensgeschichten formen.
Und wir somit auch den Ihrigen!
So sollte sich ein Jeder der Menschen erinnern, welche den eigenen Lebensweg zäunen und wir als Gemeinschaft dürfen auch den Einzelnen nicht vergessen.
9
Es hatte aufgehört zu Regnen und wie um das Unglück derer zu unterstreichen, welche in den plötzlichen Regenguss geraten waren, erstrahlte der Himmel nun erneut unschuldig im schönsten Sonnenschein.
Ein paar Kurgäste trollten sich tropfnass, aber lachend zurück in die Klinik und begrüßten die herausströmenden Mitpatienten, während das Klinikpersonal gutgemeint kopfschüttelnd Handtücher verteilte. Lediglich die kleine schwarz-weiße Katze schien unbeeindruckt vom ganzen Spektakel und begann sich zitternd trocken zu lecken.
Charlotte wurde den Eindruck nicht los, dass der finstere Blick des sonst so possierlichen Kätzchens bedeutete, dass das Tier die Sinnhaftigkeit von Regenwetter schwer infrage stellte. Auch schien sie vom ihr angebotenen Handtuch nur wenig zu halten und wehrte sich merklich gegen den Versuch sie beim abtrocknen zu unterstützen, was Charlotte sehr amüsierte, nicht nur, da die Katze nach gewonnenem Kampf lediglich zwei Meter weiter wieder platz nahm, um, wie über die Störung empört, mit dem Rücken zum handtuchschwingenden Pfleger ihre Morgentoilette fortzusetzen, sondern auch wegen des vom Gefecht gezeichneten Pflegers, welcher nicht minder entrüstet wirkte.
Der Anblick Marias, welche mit eingefallenen Zügen über ihrem aschfahlen Gesicht an Charlotte vorbei zog, diese ansehend offenbar ohne sie wahrzunehmen, ließ Charlotte kurz innehalten. Keine Spur mehr von der Schamesröte und dem verhaltende Lächeln, welches Charlotte noch am vorigen Tag zu einem breiten Grinsen veranlasst hatten, als sie den beinahe lächerlich wirkenden Versuch auf subtile Weise zu flirten, zwischen Maria und Jack aus der Ferne beiwohnen durfte.
Irgendwie süß war sie ja, wenn auch offensichtlich mehr als unsicher in ihrem Auftreten; Irgendetwas verunsicherte Maria Walder augenscheinlich und das nicht erst seit heute. Dass sie unerfahren und aufgeregt war, konnte diese schon während der famose Begegnung im Stadtpark kaum verbergen, doch Charlotte hatte da zumindest den Eindruck gewonnen, Maria wäre selbstsicher in ihrem Auftreten, wenn schon nicht aufgrund von Selbstvertrauen, aber doch wenigstens aus antrainierter Gewohnheit. Nun wirkte sie selbst aus der Entfernung verhuscht, ja beinahe ängstlich.
Bevor Charlotte ihre Analyse fortsetzen konnte, bekam sie Gesellschaft auf ihrer Bank und wurde vom Gesprächswall einer Mitpatienten förmlich überrollt. Diese plapperte so aufgeregt auf Charlotte ein, dass diese ihr nicht hätte folgen können, selbst wenn sie willens dazu gewesen wäre. Und so blendete sie diese aus; nickte freundlich zustimmend und wartete die Zeit ab, bis sie endlich erneut allein war und ihre Aufmerksamkeit wieder auf Maria lenken konnte, welche sich in der Zwischenzeit der kleinen Katze zugewandt hatte.
Wie, um dem leicht lädiertem Pfleger noch eins auszuwischen, ließ sich das Kätzchen von Marias Hand das Abtrocknen sehr wohl gefallen; ja schmiegte sich an sie, was zumindest etwas Farbe auf Marias Wangen zurück zu bringen schien. „Muss doch nen Therapietier sein.”, mutmaßte Charlotte zufrieden in sich hinein, bevor sie erneut in ein Gespräch verwickelte wurde.
Gerade wollte sie sich höflich, aber bestimmt entschuldigen, da winkte ihr Maria Freude strahlend zu, zeigte danach neben sich und zog, in eine animierte Unterhaltung versunken, weiter.
Charlotte spürte wieder mehr als dass sie sah, dass Dr. Hinterseers strenger Blick auf ihr ruhte. Sie spürte das gleiche Gefühl der Beklemmung ihren Rücken emporkriechen, wie das bereits am Tag zuvor unter seiner Beobachtung durch ihr Zimmerfenster geschehen war. Sich selbst zur Ruhe zwingend, warf sie einen direkten Blick auf den Doktor; sie wollte ihm stark in die Augen sehen. Zu ihrer Enttäuschung, aber auch Erleichterung, hatte dieser seiner Aufmerksamkeit mittlerweile auf Maria gelenkt, welche noch immer zutiefst in einer Unterhaltung versunken am Rande des Klinikgartens stand.
Scheinbar verdrossen darüber, sowohl Marias Beachtung als auch streichelnde Hand verloren zu haben, zog die kleine Katze schließlich mit hängendem Kopf an Charlotte in Richtung Stadt vorbei und ließ diese mit ihrer nach wie vor monologisierenden Banknachbarin allein zurück.
„Stets von Bestand”
10
Dass Fell war noch immer nicht ganz trocken, da sah sich die kleine Katze in Gefahr in einen weiteren Regenguss zu geraten, als sie den Marktplatz betrat. Als wären ihr die dunklen Wolken gefolgt, thronten diese nun über Eatrichs Stadtmitte und wirkten sicher nicht nur auf das Kätzchen bedrohlich, da dass Gelände vor dem Rathaus mit einem Mal beinahe düster, ja gespenstig geworden war.
Ein plötzliches Bersten trieb das verschreckte Tier unter den Pavillon und inmitten von Schuhwerk, welches, in der Not auszuweichen, aufgeregt um sie herumwirbelte.
„Uh… pass doch auf!”, klapperte es neben ihr.
„Nein, kann Jemand bitte was unternehmen?”, quietschte es von vorn.
„Moment.”, dröhnte es von der anderen Seite, bevor warme Hände sie hochhoben, auf einen weichen Stuhle beförderten und ihr etwas grob über den Kopf streichelten.
„Hab sie heute morgen beim Bäcker gesehen! Keinen Blick hat sie mir gegönnt… arme Frau”, sprach die warme Hand, bevor sie endlich von ihr abließ.
„Ja, aber nutzt ja nichts.”, brummte es an ihr vorbei.
„Er hat sich ja schon verdächtig gemacht.”, raunten die groben Hände erneut.
„Warum hat er auch die Aussage verweigert?!”, stimmten verschiedenen Seiten mit ein.
Das aufgekommene Stimmengewirr unterbrach sich harsch, um den Blick in gemeinsamer Schweigsamkeit auf das Paar zu richten, welches ebenfalls in Schweigen gehüllt den Marktplatz überquerte, um Eatrich nach Norden raus zu verlassen.
„Also früher wäre sowas nicht passiert!”, schoben sich nun ohne Vorwarnung feuchte Finger durchs Fell; gebrauchten es als Handtuch. Um diesem Missbrauch zu entgehen, sprang das schwarz-weiße Kätzchen zur Tafel hinauf und lief unter Gekreische über halbfertige Tischdekorationen, Krepp-Papier und Girlanden aus dem Pavillon hinaus, dem Pärchen hinterher und zurück in die Richtung, aus der es gekommen war.
***
Bernhard hätte wissen müssen, dass Emily und er nicht ohne Aufhebens über den Markt kommen würden. Die Kleidung, unter der sie sich zu verstecken suchten, zog vermutlich sogar mehr Aufmerksamkeit auf sie, als dass sie ihnen Schutz vor den widrigen Wetterbedingen bot.
Aber es nutzte nichts.
Seine Freundin hatte ihm das Versprechen abgenommen, um Hilfe zu bitten und eine Therapie zumindest in Betracht zu ziehen. Dass es die neue Klinik gab, kam ihm gerade recht. Denn keiner der Ärzte, Therapeuten und Pfleger gehörten zur ursprünglichen Nachbarschaft Eatrichs und so versprach er sich zumindest ein gewisses Maß an Anonymität; wenigstens innerhalb des Klinikgeländes.
Also hatten sie sich gemeinsam aufgemacht.
Sie steckten beide in Kleidung, in der sie fast verschwanden, da die vergangenen Jahre – ihre Krankheit, sein Lebenswandel – bei Weitem nicht spurlos an ihnen vorüber gezogen waren. Bestimmt hatte ihr der schwere, dunkelgrüne Mantel nebst passendem Hut einst wunderbar gestanden und auch ihm fehlten ein paar gesunde Kilo, um die früher sehr geschätzte, schwarze Lederjacke auszufüllen.
Bernhard wäre sich schäbig vorgekommen, hätte Emily ihm nicht mit ihren strahlenden Augen und dem leicht verschmitzten Lächeln, was es so mochte, den Schal umgebunden und ihm anschließend einen Kuss verpasst; auch wenn bloß auf die Wange.
„Im Wechsel behaftet”
11
Papierdünne Haut. Aufgelöst. Nur harte Augen. Immer auf mich… auf mich gerichtet. Ein Strudel aus Nichts. Aus Kälte. Aus Hitze. Aus Allem. Ich verstehe es nicht!
***
Charlotte war schon wieder leichenblass, Maria machte sich Sorgen.
Ob diese Einrichtung überhaupt dafür geeignet war, Menschen wie Charlotte wirklich helfen zu können? Sie würde Dr. Embrich darauf ansprechen.
Doch zuerst wollte Maria ihr ihre neue Bekannte vorstellen. Bestimmt würden sie sich mögen. Und bedanken musste sie sich bei Charlotte auch noch, denn nur ihrem Ratsschlag hatte Maria es zu verdanken, dass diese sich inzwischen in jeder freien Minute dieses Tages wunderbar unterhalten fühlte und auch hatte.
„Ach verdammt! Was ist das?” Ein unangenehmes Kribbeln lenkte Maria ab. Bestimmt wieder so ein Krabbeltier; den ganzen Tag war sie schon verfolgt wurden. „Das muss am Wetter liegen.” Mit zusammengekniffenen Lippen entfernte sie den kleinen schwarzen Käfer von ihrer Armbeuge und lief weiter auf ihr Gegenüber zu.
„Charlotte! Ich will dir… Was hast du?”
Traurige Augen blickte ihr entgegen und ein Gefühl der Verunsicherung machte sich in Maria breit. Hatte sie was falsch gemacht? Ach, bestimmt kannte Charlotte ihre neue Bekanntschaft schon. So viele Patienten waren es ja auch noch nicht. Aber nein. Warum sollte sie deshalb betrübt sein? War zwischen ihnen was vorgefallen?
***
Zähe Tropfen, glühend durchbohren meine Haut. In Brandblasen geschlagene Eiszapfen regnen auf mich danieder. Und immer nur diese Augen über mir.
***
„Es tut mir leid.” Charlotte hatte einen fast schon zu sanften Tonfall und sie war nun beinahe grau im Gesicht, die Lippen aufgerissen und blutig gekaut. Aus Angst sie könnte erneut zusammenbrechen, wandte sich Maria hilfesuchend an ihre neue Bekannte und bedeutete ihr Dr. Hinterseer zu holen, welcher gerade eben in den Garten getreten war, um ein paar Leuten das Gelände zu zeigen.
„Hilfe ist schon unterwegs!” Maria griff nach Charlottes rechter Schulter, um sie zu stützen, doch schreckte zurück, als sie bemerkte, das wieder so ein schwarzer Käfer in ihrer Armbeuge hockte.
***
Keine Atmen mit durchstoßener Lunge… knochige Finger umgreifen mich.
***
Dr. Hinterseer hatte sich mit samt seiner beiden Begleiter zu ihnen gesellt.
Zu seiner Linke eine Dame mittleren Alters, deren Haar unter einer Mütze versteckt und deren Körper durch einen weiten Mantel verhüllt war. Zu seiner Rechten ein Mann, der sich, wie um sich zu verbergen, ebenfalls tief in eine übergroße Jacke hüllte. Ein hellgrauer Schal verdeckte halb sein Gesicht, doch zog gleichzeitig den Blick auf das selbige und Maria sah genug, um den Herrn wieder zu erkennen.
„Oh, mein… Sie sind der Mann von dem Bild! Das ist ja verrückt. Siehst du, genau so habe ich ihn beschrieben.”, wandte Maria sich zu ihrer Bekannten um, die nun nirgendwo mehr zu sehen war.
„Wo ist sie hin? Haben Sie sie verschreckt? Sie ist empfindlich! Was haben Sie zu ihr gesagt?”, verlangte sie mit nun, mit für ihre Ohren, beinahe schrill klingender Stimme.
Sechs Paar Augen sahen sie verwundert an, nur Charlotte blickte wissend, wenn auch betreten.
„Sie ist nicht real.” Schon wieder dieser sanfte Tonfall.
„Maria, es tut mir leid, aber deine Freundin existiert nicht; zumindest nicht für die Augen aller Anderen.” Charlotte wollte nach ihr greifen, doch Maria stieß sie von sich.
„Was redest du da?! Du hast sie doch gesehen, als sie mit der Katze gespielt hat! Du hast mir erklärt, wie ich mich ihr am besten nähern kann! Du…“
Dr. Hinterseer war inzwischen an Maria herangetreten, seine Haltung offen, sein Blick ruhig.
„Charlotte muss sich irren, bestimmt verwechselt sie was, wo sie doch krank ist. Schauen Sie sie an, ganz sicher ist sie es, die sich Sachen einbildet. Erklären Sie es ihr Doktor!”, flehte Maria mit leiser, zittriger Stimme, während sie versuchte erneut einen schwarzen Käfer aus der Armbeuge zu wischen.
„Es tut mir leid Frau Walder. Alles wird gut. Bitte kommen Sie mit und es wird sich klären.” Dr. Hinterseer reichte Maria seine Hand, welche diese, nun sprachlos, ergriff. Nach einem kurzen Nicken griff er auch nach Charlottes Arm.
„Charlotte bitte begleite meine Gäste hinaus und geh nicht zu weit; wir müssen noch reden!”
„Hatte mich schon gewundert, wann du dich mir endlich persönlich entgegenstellst, Vater.”, stieß Charlotte hervor und die Hände des Doktors davon.
Maria wurde schwarz vor Augen.
***
Und ich liege hier nun wieder… am Boden, im Nassen…. verdorre ertrinkend… beobachtet… allein… hilflos… nutzlos… und bitte nur immer um Verzeihung.
„Mit Sonnenschein im Herzen”
12
Der Stuhl auf dem Charlotte saß, war kaum härter als der Blick, unter welchem sie versuchte standhaft zu bleiben.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?”, brummte ihr Gegenüber und setze ohne auf eine Antwort zu warten nach: „Hast du überhaupt gedacht, verdammt?” Sie hatte Maria nur helfen wollen, „dafür brauchte ich aber erstmal ihr Vertrauen! Sonst hätte sie mir, einer Patientin, doch nie geglaubt, dass sie ernste Probleme hat!”
Während Marias Aussetzer im Park war Charlotte schnell klar geworden, dass diese unter starken Wahrnehmungsstörungen litt, aber auch dass sie sich derer nicht bewusst war. „Es war ein kalkuliertes Risiko!”, beteuerte Charlotte dem Rücken ihres Vaters, da dieser sich inzwischen kopfschüttelnd abgewandt hatte.
„An deine Risikoweinschätzung erinnere ich mich nur zu gut; glaub mir. Du hättest mich gleich aufsuchen müssen… Was wolltest du beweisen? Hast du denn nichts dazu gelernt oder ist es dir egal?”
Charlotte wollte diese Fragen nicht beantworten, denn ihr war klar, dass nichts, was sie jetzt noch sagen könnte, verhindern würde, dass nicht nur Maria, sondern auch sie selbst auf unbestimmte Zeit nicht mehr aus der Klinik herauskäme.
„Was wird jetzt aus Maria?”, fragte sie schließlich zögernd.
„Frau Walder muss sich jetzt erst einmal erholen. Ich habe eine frühere Kollegin von mir angefordert, welche beurteilen kann, welche Umstände zu ihrem Zusammenbruch geführt haben und ob möglicherweise eine andere Grunderkrankung der Wahrnehmungsstörungen vorausgeht. Sie wird ihr hoffentlich auch dabei helfen können einen guten Weg für sich zu finden und auch mögliche Zukunftsaussichten zu planen. Selbst wenn sich herausstellt, dass eine schizophrene Störung vorliegt, lässt sich diese heutzutage gut behandeln. “
„Ich möchte sie besuchen…“, unterbrach Charlotte ihren Vater, welcher sich ihr mit vor Überraschung erhobenen Brauen wieder zugewandt hatte, „… Ich mag sie!“
„Wenn Frau Walder es wünscht. Sie kann eine echte Freundin jetzt mehr als gebrauchen“ Die Emphase lag auf dem Wort „echte“, was der zustimmend nickenden Charlotte nicht entgangen war. Mit einem Blick, der sie fast zu durchbohren drohte, fuhr er fort:
„Egal, was Frau Walder auch erwarten wird, ein geregelter Ablauf und Unterstützung sind ab jetzt für sie das Wichtigste. Sie muss lernen, dass sich das Unkontrollierbare nun mal nicht kontrollieren lässt und darf weder sich noch andere dafür nicht bestrafen.
Das gleiche gilt auch für dich!”
***
Die kleine schwarze-weiße Katze, welche sich auf einer Fensterbank bis eben gesonnt hatte und von lauten Stimmen aufgeschreckt wurden war, zog sich, nach einer kleinen Abschiedsrunde durch den Privatgarten des Haus Instenburgs, in Richtung Stadt zurück.
Eatrich war mittlerweile vollständig raus-geputzt für das anstehende Stadtfest und erstrahlte so nicht nur im Glanz der Sonne, die nun endlich ungestört am wolkenlosen Himmel ruhte.
Der Regen des Vortages schien vergessen und so hatte man auch den Pavillon wieder abgebaut. Es waren nur kleinere Pfützen geblieben, die das Kätzchen über die gestellten Tische und Tafeln zu umwandern wusste, während es über den, mit Ballons und herbstlichen Gestecken, geschmückten Marktplatz lief.
Wie üblich trieb es sie in den Ostteil der Stadt, vorbei an Einfamilienhäusern, dem Spielplatz, durch die Mehrfamiliensiedlung bis hin zur Residenz zur Ruhe, wo bereits die neueste Ausgabe der Tagespresse auslag.
Der Leitartikel preiste das Fest zur Ehrung Eatrichs im „Gartenfreund-Wettbewerb“ des Landkreises an. Denn „nicht nur wurden die prämierten Kürbisse, Zucchini und Marmeladensorten lobend in den Nachbargemeinden erwähnt, unser heißgeliebter Cidre erreichte sogar den dritten Platz!” Selbst der Bürgermeister würde für das Sonderstadtfest extra aus dem Urlaub zurückkehren, hieß es weiterhin.
In einem kleinen Artikel wurde über das voreilige Fällen von Urteilen gewarnt, schließlich „könnte es jeden treffen und Langzeitschäden dürften nie unterschätzt werden.” Die letzten Zeilen richteten sich an Bernhard Wagner, dem somit eine öffentliche Entschuldigung „für mögliche Umstände” ausgesprochen wurde sowie viel Erfolg weiterhin und einen guten Start im zukünftigen neuen Zuhause. „Eatrichs Nachbarschaft wird dich vermissen!”
Die Ankündigung über einen Eigentümerwechsel im Teehaus schloss sich daran an und im Anzeigenteil suchte das Haus Instenburg nach neuen Mitarbeitern für die internistische Abteilung.
Die abschließenden Seiten widmeten sich den „neuesten Abenteuern der Rühlich-Knaben”, welche von ihrem „Spontanbesuch in der großen Stadt” bei deren Vater berichteten.
Aber all das interessierte die kleine schwarz-weiße Katze nur insofern, dass sich die Zeitung wunderbar zum Schärfen ihrer Krallen eignete.
„Tilli!”, der streng klingende Ausruf ihres Namens ließ das Kätzchen innehalten.
„Na wenigstens du hast einen Nutzen für das sinnfreie Wurschtblatt gefunden.” Der Tonfall war nun deutlich entspannter und untermalt vom amüsierten Zwinkern Rubys, als diese sie auf ihren Schoß beförderte und zu streicheln begann.
Nach einem deutlichen, wenn auch nicht minder belustigten, Räuspern von Elke setzte Ruby gespielt ernst nach: „Sinnfrei mit Ausnahme der gestrigen Ausgabe natürlich.”
„Natürlich!”, unterstrich Elke, während sie für die beiden Frauen Tee aufgoss.
Epilog
Strahlend, ja fast schon blendend, ergoss sich das Sonnenlicht über die gepflegten Straßen Eatrichs; nichts erinnerte mehr an die Verschlafenheit der nebelverhangenen und verregneten letzten paar Tage.
Das groß angekündigte Stadtfest schien bereits im vollen Gange, da Musik, Gelächter und der schwere Duft von Backwaren in der Luft lagen und Charlotte, welche von ihrem Vater begleitet den Marktplatz betrat, begrüßten.
Geschäftiges Treiben, knallbunte Dekoration, kostümierte Menschen; seliges Miteinander.
„Mein Gott, diese Stadt wirkt wie aus einem Roman entsprungen!”, brummte ihr Vater in sich hinein.
„Ja.”, legte Charlotte nach, „Stellt sich nur noch die Frage, in welches Genre einordnen?”
Der kurze Moment der Einigkeit wurde harsch unterbrochen als zwei Jungen auf sie zu stürzten und versuchten Charlotte in ihre Arme zu schließen. „Na ihr Beiden. Hat sich euer Vater über den Besuch gefreut?” Klebrige Finger hielten sich an ihrem Rock, Kinderköpfe nickten ihr aufgeregt zu, durch ihr breites Grinsen lugten Zahnlücken… bis schließlich zwei Hände und ein strenger Blick die Knaben bestimmend davonzog.
Ja, der Augenblick der Einigkeit und Zustimmung ihres Vaters war verflogen und nur noch Dr. Hinterseer, mit seinen allwissenden Gesichtszügen stierte sie kopfschüttelnd an. „Ich war ihnen am Bahnhof begegnet. Konnte ich ahnen, dass sich die Jungs direkt in den nächsten Zug setzen?”, fragte Charlotte niemand bestimmten, denn ihr Vater war schon in der Menge verschwunden.
Die wachsamen Kameraaugen des Marktplatzes und bedeutenden Blicke der unablässig freundlich lächelnden Nachbarn sahen auf Charlotte herab, als diese, wissend, dass die Zeit der unbeaufsichtigten Wanderungen nun vorbei war, ihre Lippen zusammenbiss, um sich nun ebenfalls unter den Menschen zu verlieren; in der Menge aufzulösen, wie einst im Nebel.
Ende
(Sep. 2017)
©