ein Irgend_Jemand

Der Tag, an dem er aus seinem Leben fiel, fing eigentlich ganz harmlos an…

Wie so oft erwachte er kurz vor 5Uhr morgens und versuchte gar nicht erst weiter nach Schlaf zu suchen. Wie immer an solchen Tagen stolperte er direkt ins Badezimmer, wie zu oft erfolglos; schon lange nicht mehr enttäuscht, dass seine Blase ihn zwar mit Gewalt geweckt hatte, aber sich schließlich weigerte ihm Erleichterung zu verschaffen; das Alter vermutlich.

Tief durchatmend zog es ihn zurück ins Bett, zog es ihn zur zu schwach leuchtenden Lampe und zum aktuellen Buch. Bewusst nicht auf die Nachbarn lauschend, lag er nun da und las – las einige Stunden, da es im Grunde nichts zu tun gab außer sich die Zeit zu vertreiben und aktiv nicht darüber nachzudenken, dass es im Grunde nichts gab in seinem Leben, das seine Aufmerksamkeit verlangte.

Es war kein Kampf mehr; das Nichts-zu-tun-haben. Es war eine einfache Tatsache, die es zu akzeptieren galt oder wenigstens zu ignorieren… und das tat er nun – Tag ein, Tag aus.

In Herrgottsfrühe erwachen, nicht auf die Nachbarn lauschen, stundenlang lesen, Kaffee zum Frühstück, Nachrichten auf leerem Magen, Löcher in die Luft starren, Lesen, zu wenig essen, ein paar Schritte an der frischen Luft… nicht lauschen, ein Glas Weinbrand zum Abend und von vorn.

Ein Leben im mittleren Alter ohne Aussicht auf Verbesserung, ohne Kraft schon wieder von Null anzufangen, ohne Muße irgendjemanden noch irgendetwas erklären zu müssen.

So lag er nun also wie immer da, die stets laufende Nase ins Buch vertieft. Die blutunterlaufenen, grauen Augen flink über Zeilen gleiten lassend. Das vom Schlaf noch kreuz und quer liegende braune Haar ins Kissen gedrückt mit dem Rücken zum Wohnbereich. Als ihn auf einmal ein zu nahes Klappern, ein Türen öffnen und schließen, ein Wasser laufenlassen, ein Stuhl über Laminatboden schieben, ein Knarren im Sessel… erst verwundert aufhorchen, dann erschrocken aufrichten und schließlich entgeistert in Richtung Wohnbereich blicken ließ.

Jemand war in seiner Wohnung, saß auf seinem Stuhl, trank seinen Kaffee und schenkte der morgendlichen Nachrichtensendung seine Aufmerksamkeit…

Jemand, ein Jemand, welcher ihm bis aufs Haar zu gleichen schien.

—-

Er hätte wohl entsetzt sein müssen – sicher war er es auch oder wäre es gewesen, damals als ihn sein Dasein noch interessiert hatte. Vor langer Zeit inzwischen, bevor er sich schließlich abwandte von der Welt, von sich selbst. Bevor er sich eingestehen musste, dass er keinen Platz, kein Dazugehören hatte… es nicht zu verdienen schien.

Davon jedenfalls war er mittlerweile überzeugt. Da er doch so viel erwartete, schulterte für sich und andere, zu viel Zutrauen besaß, immer sich anzupassen versuchte, niemals herausstehen wollte und auch nie könnte, stets den Vortritt lassend, die helfende Hand reichend, den Blick zu Boden richtend – ganz so, wie es gelehrt wurde, wie zumindest er es stets zu verstehen glaubte. Nur um schließlich zu begreifen, dass er nichts verstand, dass er sich zu klein gemacht hat, dass er letztlich beinahe verschwunden war – ein Unsichtbarer, einer unter vielen, ein lebenslänglich Eingefügter und bis zum bitteren Ende ein Außenseiter, ein Zuschauer.

Ja, wenn es einen hätte treffen müssen, dass ein Jemand ihn ersetzt, er konnte es beinahe einsehen.

Er, der sich selbst nur von Innen sah, betrachtete jetzt Ihn, den Anderen, den Jemand, sein Abbild von außen.

Kurzes, gepflegte braunes Haar mit leicht ergrauten Schläfen, die ihn nicht alt sondern reif wirken ließen. Auch seine Augen grau, aber frisch ausgeruht und aufmerksam. Er hatte sich bereits fertig angekleidet – dunkle Hosen und ein kräftig grünes Hemd – schien bereit zum Aufbruch, obgleich er noch beim Frühstück und den Nachrichten saß.

Die morgendliche Nachrichtensendung neigte sich zum Wetterbericht, würde in Kürze einen erfolgreichen Tag wünschen. Der Andere saß noch immer auf dem bequemen Lehnstuhl, rührte mit der Linken den Kaffee, löffelte mit der Rechten sein Müsli – eine Körnermischung, Weizenkleie und frisches Obst.

Er, der da weiterhin im Bett lag, blinzelte einige Male, da er selbst nie über die drei Tassen Kaffee hinauskam, nie morgens zu essen vermochte und sich fragte, ob der Andere tatsächlich sein Doppelgänger sein konnte, wo dieser sich schließlich so eindeutig vom ihm und seinen jahrelang gepflegten Kaffeeritual abhob.

Stille – der Fernsehen nun ausgeschaltet. Ein Stuhlschieben, ein Klirren, ein Rauschen vom laufenden Wasserhahn. Dann Schritte und das Klappen der Haustür.

Ja, der Jemand könnte niemals sein Abbild sein und zugleich so rüstig in den Tag starten. Wo er wohl hinging? Was er wohl so trieb?

Dem Anderen zu folgen fiel ihm nicht ein. Seine Vorstellungen zeigten ihm deutlich genug, dass dieser ein traumhaftes Leben führte. Bestimmt nicht nur unter Menschen sondern mit ihnen. Nicht lediglich toleriert sondern geachtet. Nicht nur gehört vom Rest sondern vernommen.

Oh, wie traf ihn nun der Neid auf sich selbst. Er müsste all das auch haben. Würde es, wenn er nur die Kraft fand sich endlich wieder zu erheben.

Aufstehen. Losziehen. Nicht zurückblicken. Sollte es so einfach sein?

Kurz durchfuhr ihn ein Schauder. Länger noch kamen Fragen auf. Am Ende entschied er es fürs erste zu belassen.

—-

Wie immer war er frühmorgens erwacht, lauschte kurz dem Wind in den Ästen, dem Zwitschern der Vögel vor dem stets halboffenen Fenster. Wie immer machte er dann Frühsport, denn nur so bleibt man auch im Alter fit – so wusste er genau.

Die Tageszeitung zur Hand. Nach dem Aufstehen gleich geholt und natürlich mit einem freundlichen Gruß an die Nachbarn. Den Kaffee frisch aufgebrüht – nur eine Tasse am Morgen, besser es nicht zu übertreiben. Die Nachrichten im Hintergrund, der Eifer voraus, die geliebte Routine der arbeitsreichen Tage im Nacken.

Auf einmal ein Stöhnen, ein Räuspern, eine Bewegung im Bett.

Ihm stockt der Atem, denn Jemand liegt zusammengekauert in seinen Federn, mit seiner Abendlektüre unter seiner Nase, trägt seinen Schlafanzug und die schlaf-zerzausten braunen Haare…

Jemand, ein Irgendjemand, welcher ihm bis aufs Haar zu gleichen schien.

Ende

(Juli 2018)

©