„Wir atmen wieder auf.“
Eatrich kann endlich wieder zur wohl verdienten Ruhe kommen; die Rühlich Knaben sind in den frühen Morgenstunden wohlauf zuhause eingetroffen.
Laut Oberwachmeister Klausner hatten sich die Buben, welche während eines Schulausflugs am gestrigen Tag in den Stadtwald, verschwunden waren (die Tagespresse hatte darüber in einer Sonderausgabe berichtet), im alten Steinbruch ein Ford geschaffen. Sie hätten beim Spielen die Zeit vergessen und wollten natürlich nicht mitten in der Nacht durch den Wald; hieß es weiterhin.
Um in Zukunft zu verhindern, dass Kinder den Steinbruch mit einem Spielplatz verwechseln könnten, ist dieser bereits weiträumig abgesperrt wurden; über eine Permanentlösung wird in der nächsten Stadtversammlung entschieden.
An dieser Stelle sei erneut ein Dank an alle Nachbarn ausgesprochen, die die Polizei tatkräftig bei der Suche unterstützt haben oder auch mit aufrichtenden Worten zur Seite standen.
Der Schrecken sitzt uns allen natürlich noch im Nacken, doch wie heißt es so schön:
Jungs sind nun mal Jungs, nichtwahr?
6
Dieser verdammte Artikel gepaart mit dem „Reisebericht“ der Rühlich Geschwister (Kinderbilder – Gekrakel in Bernhards Augen) hatte fast zwei Monate öffentlich ausgehangen, bevor die Kollage zum Voranschreiten der Schulgebäudesanierung interessanter erschien und den Artikel mitsamt dem dazugehörigen Stadtgespräch abgelöst hatte.
Zwei Jahre lag das Kleinstadt – Drama nun zurück und allgemeines Vergessen hatte sich über die Gemeinde gelegt; bis heute!
Bernhard selbst konnte sich an diese paar Stunden allerdings noch nur zu gut erinnern. Er verlor halb den Verstand während des ganzen in Tränen aufgelöste Mutter und Lehrerin beruhigen, Kindern Geschichten erzählen, Suchtrupps organisieren, den Wald durchkämmen, die letzte entscheidende Unterhaltung mit seiner Frau führen.
Natürlich war es nötig, dass die Stadt einen Sündenbock vorweisen musste, das konnte Bernhard sogar noch verstehen. Die Absicherung von Baustellen und leer stehenden Werken, wie dem ehemaligen Steinbruch fielen, laut Stadtbeschluss, unter den Aufgabenbereich der Polizei; die Kette vor dem Zugang nebst Hinweisschildern kam aber wohl eher einer Einladung gleich, „und doch sicher nicht nur für die beiden sieben Jährigen Buben“. Dies hatte man im Nachhinein zumindest erklärt.
Dass Bernhard und seine Karriere, sein guter Ruf, letztlich seine Ehe dabei unter die Räder gerieten, entpuppte sich als „unglückliche, unvorhersehbare, kaum entschuldbare Nebenerscheinungen, die niemanden vorzuwerfen waren oder? Und Herr Wagner könne sich doch glücklich schätzen, dass sich die Stadtverwaltung sogar öffentlich dafür ausgesprochen hatte, dass man ihm keine nachweisbare Schuld zusprach, dass lediglich ein zu freimütiger Umgang mit der Geländeabsicherung die Ursache für das Verhalten der Kinder gewesen war, denn schließlich nutzen Kinder alle Freiheiten, die ihnen gegeben werden.“
Dass es diesen speziellen Knaben auch an Erziehung mangeln könnte oder dass das Lehrpersonal (die eigene Mutter) ihre Aufsichtspflicht verletzt hatte, wurde getrost ignoriert. Bernhards entsprechende Anmerkung führte dann noch zum Einzug seiner Mitgliedschaft im Whiskey Klub, denn: „die Rühlichs sind eine angesehene Familie, welche im Stadtverein stets beachtliche Beiträge leistet. Auch soll doch der Brunnen am Marktplatz im kommenden Jahr wieder in Standgesetzt werden, da kannst du doch nicht solche haltlosen Beschuldigungen in die Welt setzen…“ und brachte das Fass seiner eh schon angeknacksten Ehe zum überlaufen, denn Heidrun Rühlich’s „Namen so in den Dreck zu ziehen, ist mal wieder typisch. Als ob du wüsstet, wie schwierig die Erziehung von Kindern ist; du bist schließlich nie hier, um es zu merken!“
Ja, Bernhard hatte jedes Recht wütend zu sein auf die Jungen und deren Familie, sogar auf die Stadt selbst. „Jeder hat Verständnis für deine Situation, aber warum jetzt? Warum nach so langer Zeit? Liegt es daran, dass sie wieder geheiratet hat? Wo hast du sie versteckt? Sprich mit uns, verdammt!“
***
„Hast du schon gehört? Die Rühlich Jungen sind weg… und diesmal wirklich…“, das Stimmengewirr und die Blicke der Stadt lagen nun wieder auf Bernhard, klebten in seinem Nacken, durchbohrten ihn fragend, ja wissend. Denn die Meinung Aller wiegt schwer.
„(K)ein Abenteuerspielplatz“
7
Marias Gesicht war noch immer hochrot vor Scham, obgleich der Zusammenstoß mit Dr. Hinterseer bereits einige Stunden zurücklag, aber da die Röte stets wieder aufzuflammen schien, begegnete sie einem der Ärzte, beschloss Maria, dass der unschöne Schichtbeginn Schuld an ihrem unmissverständlichen Hautton war. Die Tatsache, dass ihr der verfluchte Gang mit diesem seltsamen Gemälde nicht aus dem Kopf gehen wollte, tat ihr Übriges.
Während sie auf die nächste Aufgabenzuteilung wartete, genoss Maria die Sonne im Klinikgarten, welche zu dieser Jahreszeit zwar nicht mehr besonders kraftvoll war, jedoch eine willkommene Abwechslung zu dem nebelverhangenen Vortag darstellte. Nur wenige Menschen befanden sich draußen, da bereits die Mittagsrunden begonnen hatten. Auch wenn es zum Kuralltag beziehungsweise zur Therapiebegleitung gehörte die Patienten an feste Malzeiten nach vorbestimmten Zeitplänen zu gewöhnen, respektive dies vielmehr von ihnen zu verlangen, kam Maria nicht umhin, sich daran zu stören. Sie würde sich im ersten Moment bestimmt gegen solche Zwänge zur Wehr setzen. Schon aus Prinzip! Pünktlichkeit war das Eine, aber jemanden vorzuschreiben, wann dieser was zu essen hatte? Nicht, dass sie das nicht nur zu gut von Zuhause kannte. Aber das erwachsenen Leute abzuverlangen? Ihre Essenszeit selbst einzuteilen, war eine der Freiheiten, die Maria im Studium so sehr genoss, dass sie ganze Gespräche zu diesem Thema führte.
„Öffne lieber deine Augen, wenn du schon auf dem Weg rumstehst, manch einer könnte sich sonst wohlmöglich einen Spaß erlauben.“, riss sie eine leicht belustig klingende Stimme aus den Gedanken. Jack Trevor, in seiner Aufgabe als Oberpfleger, hatte die Verantwortung übernommen Maria bei der Einweisung in Arbeitsabläufe oder für sonstige Fragen zur Seite zu stehen. Das Haus Instenburg war ein recht kleiner Betrieb und das Personal entsprechend überschaubar, somit blieb den diensthabenden Ärzten kaum Zeit für die Einführung neuer Kollegen. Normalerweise hätte Maria es vorgezogen direkt unter den Doktoren der internistischen Abteilung zu lernen, jedoch schien ihr Nervenkostüm dafür nicht bereit; jedenfalls am heutigen Tag. Dass sie an Jack bereits nach ihrer ersten Begegnung Gefallen gefunden hatte, trug zwar nichts dazu bei die Schamesröte zu verlieren, heiterte sie jedoch genug auf, um diese in seiner Gegenwart ignorieren zu können. Zumal Maria davon ausging, dass ihr strahlendes Lächeln und die vom Makeup fein betonten Augen für sich selbst Sprachen, zumindest war das eine Erfahrung aus Universitätsjahren, an welche sie nur zu gern zurück dachte.
„Mist verdammter…!“, ein Sturz über ihre eigenen Füße holte Maria zwar aus den Wolken, aber beförderte sie schnurstracks in Jacks Arme. Er schmunzelte nur, während er sie wieder aufrichtete: „Als ich gerade noch mit mir haderte dich heut Abend auf ein Bierchen einzuladen…“ flüsterte er und zwinkerte Maria unverhohlen zu.
***
Es ist dunkel! Warum? Es sollte Tag sein, nicht wahr? Es war eben noch hell; Sonnenschein, warme Brise, buntes Laub… nun… Kälte, klebrige Finger an meiner Haut… Was willst du!
***
„Hey, alles klar bei dir? … Verzeihung! Sind Sie in Ordnung?“, Charlotte begann sich mühselig aufzurichten, kalter Schweiß rann ihren Rücken hinab, als sie versuchte Marias fragendem Blick standzuhalten.
„Duz mich ruhig und lass die Höflichkeiten! Alles Andere wäre mehr als lächerlich. Meinen Sie nicht auch?“, Charlotte verabscheute solche Situationen! Immer zogen sie Erklärungen nach sich, denen sie selbst seit Jahren aus dem Weg zu gehen versuchte. „Alles gut! Mir ist nur ab und an etwas schummrig. Schau nicht so!“, winkte sie Marias hilfereichende Hand wirsch ab. „Hey! Ich bin Doktor. … Ich werde es zumindest“, schob Maria zügig nach, da Charlotte zum Widerspruch ansetzen wollte, „Willst du dich hinlegen? Ein Glas Wasser? Hast du heute schon genug getrunken? Hast du das öfter? Bekommst du Medikamente? Wieso bist du hier?“, ihr Wortfluss kam abrupt zu Stehen, denn zwei leicht zittrige Hände legten sich an Marias Hüfte und leiteten sie in Richtung Parkbank wo sie schließlich verdutzt Platz nahm. „Nein. Sobald ich im Haus bin. Ja. Ein paar Jahre. Nur bei Bedarf. Hypocobalaminämie.“, als ihr Gegenüber nur blinzelte, setze Charlotte nach: „Als zukünftiger Arzt solltest du dringend deine Anamnese-Technik ausfeilen. Selbst bei polizeilichen Befragungen wird den Leuten Zeit zum antworten eingeräumt“, grinste sie leicht schief und sah der nun recht sprachlosen Frau Dr. Walder in spe herausfordernd in die weit aufgerissenen Augen.
Maria brach in Lachen.
***
Das erste Mal an diesem oder auch den letzten Tagen, wenn sie ehrlich mit sich war, entwich alle Anspannung. Maria verzichtete sogar darauf dem Gedankengang über die Wichtigkeit von professionellem Abstand gegenüber den Patienten zu weit zu folgen.
Sie genoss Charlottes spitze Zunge und ihre Offenheit. Natürlich schien sie etwas seltsam, aber wer war das nicht irgendwie? Maria fühlte sich wohl, wenn auch erkannt. Im Normalfall versuchte sie genau das zu vermeiden, denn sobald die Leute der Meinung waren, sie durchschaut zu haben, zerbrach jede noch so zarte Bande mit ihnen. Meistens da die Einschätzung auf übereilten Urteilen ruhte, welche sie nie korrigierte. Vater hatte ihr immer gepredigt, dass „Wer sich erklärt, der lebt verkehrt!“ schließlich beruht die Notwendigkeit sich zu rechtfertigen auf dem Eingeständnis einer Schuldigkeit oder schlimmer noch Schwäche, und „du machst dich angreifbar, gibst du Anderen die Breitseite preis!“
„Dein Vater ist ein Idiot, wenn er ernsthaft der Meinung ist, solche Plattitüden lösen mehr als allgemeines Misstrauen gegen Jeden und Alles aus. Er hätte dir lieber beibringen sollen, wie man ehrliche Unterhaltungen führt und einschätzt, wem man was erzählen kann und sollte. Sicher sollte man wissen, wann man seine Ausführungen beenden muss, besonders dann wenn es Gründe gibt hinterm Berg zu halten. Aber Alles zu schlucken, ist sicher auch nicht der Weisheit letzter Schluss.“ Ja, Maria mochte ihre neueste Bekanntschaft. Zumal diese die erste war, seit ihrem Umzug nach Eatrich, in deren Gegenwart sie sich nicht wie ausgesetzt und vorgeführt, sondern verstanden und unterstützt fühlte. Vielleicht war sie tatsächlich älter als ihr Äußeres den Eindruck machte; sie würde bei Gelegenheit Charlottes Akte einsehen.
„Wieso musst du hier Patientin sein?“, stöhnte Maria und legte ihre Stirn in Falten, „Wenn du es dir nur genug wünscht, tauschen sich unsere Rollen vielleicht eines Tages.“, entgegnete Charlotte mit einem Zwinkern und ohne den ironischen Tonfall, der fast jede ihrer Äußerungen zu begleiten schien auch nur im Entferntesten abzumildern. Maria zog kurz die Lippen kraus, bevor diese zu einer verspielten Schnute wurden, welche sich wiederum zu einem breiten Grinsen formte. Gerade da ihr ein passender Konter eingefallen war, ertönte ein lauter Pfiff aus Richtung der Klinik und Dr. Embrich deutete auf sein linkes Handgelenk. Was er damit ausdrücken wollte, konnte sich Maria nur zu gut denken. „Oh Mist! Ist ja nicht so als wäre er begeistert von mir. Verflucht…“, sprang sie auf, fühlte das Rot ihrer Wangen wieder aufflammen und stürzte zurück zum Haus.
„Warte!“, erhob Charlotte die Stimme, um Marias Selbstanklage zu übertönen, „Was genau wolltest du eigentlich von mir?“ „Ach ja, komm mit! Die wollten dir noch ein paar Fragen zu den Blutwerten stellen… Sorry.“ Die beiden Frauen kamen nicht weit. „Was ist los?“, ein wenig Sorge schien in Charlottes Stimme mitzuschwingen, „Ehm, ich wundere mich bloß… Hast du die Katze hier schon mal gesehen?“, fragte Maria und zeigte gen Waldrand. „Nein, aber sie gehört sicher zum Stadtbild. Viel zu gepflegt für ne Freilebende.“ „Glaubst du, dass sie als Therapietier genutzt wird? Darüber hab ich neulich war gelesen. Das soll sehr effektiv sein; beruhigend. Ich meine, geeignet scheint sie ja.“, Maria machte große Gesten und nickte sich selbstbestätigend zu. Als Charlotte sie lediglich verdutzt ansah, setzte sie nach: „Ich meine, schau…“, aus dem fragenden Blick wurde Erstaunen, „… das Mädel im Gras ist vorhin völlig ausgeflippt, als ich sie ansprach und jetzt… wow… die Ruhe in Person.“
Da sie ein lautes Hüsteln vernahmen, zogen sie weiter. „Warst du irgendwie gestresst oder aufgeregt während du dich dem Mädchen genährt hattest?“, Maria blinzelte mehrfach und nickte dann nur, „Vielleicht hast du sie nur verschreckt. Bestimmt ist sie sehr empfindsam. Wir sind hier schließlich nicht einem einfachen Kurhotel. Wenn du ihr das nächste Mal über den Weg läufst, achte auf die Emotionen, die du aussendest.“, auch darauf blieb Maria nur ein Nicken. Sie hatte noch viel zu lernen; vorzugsweise nicht nur von den Patienten.
„… denn als Gemeinschaft sind wir stark!“
8
Bernhard sah müde aus.
Die Kleidung gepflegt, aber zerknittert, denn er kauerte regelrecht auf seinem Platz, als wollte er seine hochgewachsene Statur verbergen. Die Hände im Schoß, zu Fäusten geballt. Die Schultern hängend, der Kopf leicht gesenkt. Sein Gesicht aschfahl und eingefallen. Er kaute angespannt auf seiner Unterlippen, während sein Blick prüfend über jeden Winkel des Raumes flog; aller Anschein von Autorität verflogen.
Elke hatte ihn bisher nur als einen starken, ja stolzen Mann gekannt. Obgleich sie mit Bernhard mittlerweile lediglich eine lose Bekanntschaft unter Nachbarn pflegte, hatte er bis zuletzt eine gewisse Größe ausgestrahlt; immer ein Scherz auf den Lippen, ein Zwinkern im Blick, welcher nie davor zurückschreckte sein Gegenüber herausfordernd anzusehen. Doch alles was nach dem heutigen Tag geblieben war, war dieser Mann, das Häufchen Elend, dessen Blick nie Kontakt mit dem ihren aufnahm, der nur noch darauf zu warten schien, dass man ihn rettete.
Ihn retten… ja, das könnte sie tun! Sie wollte für ihn da sein! Mit ihm gemeinsam gegen dieses Nest und den Tratsch zusammenstehen! Ja, sie würde ihn nicht so fallen lassen, wie alle Anderen! Elke hatte die Blicke der Stadtbewohner gesehen, die Tuschelei gehört als Bernhard für die Aufnahme seiner Aussage vom Steinbruch zum Revier begleitet wurden war. Das Raunen nahm weiter zu, da es anschließend zu seiner Wohnung ging, damit er der Hausdurchsuchung beiwohnen konnte. Für den Rückweg zur Stadion hatten sie schließlich einen Kollegen vorausschicken müssen, der die Stadtbewohner zur Ruhe anhielt.
Dieses verdammte Dorf!
Im Steinbruch fanden sich keine weiteren Spuren und der Rucksack gehörte nachweislich einem ganz anderen Kind – oh der Aufschrei war laut, als es hieß die Rühlich-Buben hätten diesen ein paar Tage zuvor entwendet gehabt und sich lauthals dafür gebrüstet, aber auch geweigert ihn wieder rauszurücken, denn „die dumme Heulsuse hatte es verdient! Was petzte die auch immer.“ Frau Mama und Oberlehrerin glättete wieder einmal die Wogen und wies daraufhin, „dass das noch lange nicht bedeutet Bernhard sei unschuldig!“ Natürlich ging auch die Durchsuchung seiner Wohnung hinweislos aus. Natürlich war es so und Elke würde das jedem sagen, der sie danach fragte!
Gerade wollte sie „ihrem Häufchen Elend“, wie sie ihn in Zukunft schmunzelt bezeichnen würde, genau das mitteilen, da schneite Emily zur Tür herein. Wer hatte die denn nun informiert? Und was ging die das überhaupt an? Elke kaute auf den Innenseiten ihrer Wangen und lächelte verkniffen, als sie Bernhards Entlassungspapiere aushändigte. Sie lächelte nicht mehr da sie nun allein zurück und mit ihren Gedanken allein blieb.
Nein, Bernhard war nicht mehr derselbe Mann. Elke hatte stets geglaubt ihn zu kennen, fühlte sich wohl und aufgenommen in seinem Freundeskreis… fühlte noch viel mehr, obgleich sie es nie wagte diesen Träumereien zu weit zu folgen. Vielleicht war ja doch was dran… wann kam es schon mal vor, dass die gesamte Stadt sich einig war?
***
Ihre Schicht war zu Ende… Maria hatte den Tag überstanden; wie genau war ihr auch nicht recht klar.
Doch sie konnte stolz auf sich sein, zumindest ihrer Meinung nach, denn wenigstens kannte Maria nun alle Wege der Klinik und fand sich ohne Hilfe zurecht. So gut, dass sie nicht dem Zufall die Schuld geben konnte sich erneut vor der Tür des ominösen Ganges wiederzufinden. Es prickelte in ihren Fingern als sie hindurchtrat. Wie am Morgen war die Beleuchtung gedimmt, lediglich ein paar Notleuchten wiesen ihr den Weg.
Schon nach wenigen Schritten musste Maria leicht enttäuscht feststellen, dass das Portrait verschwunden war. An dessen Stelle hing nun eine Landschaftsmalerei. Trotz der spärlichen Beleuchtung wurde deutlich, dass es ein Fluss war, der sich da durch den Winterwald schlängelte. Kahle Bäume zäunten seinen Weg, spitze Steine ragten aus ihm heraus und Irgendetwas schwamm, nein folgte der Strömung… Maria wollte ihren Augen nicht ganz trauen, als sie das Etwas als einen roten Rucksack identifizierte.
Sie schüttelte sich kurz und rieb ihre Augen: „Was für eine morbide Fantasie?“, murmelte Maria als sie tiefer in den Gang trat und nach einigen Metern an der gegenüberliegenden Seite auf ein weiteres Bild stieß; eine Kohlezeichnung. Sie verschluckte ihren Kommentar, als sie ein kleines Mädchen erblickte, welches nur im Leibchen zwischen Gräbern saß mit den Folgen eines Krieges im Hintergrund.
Tief luftholend zog es Maria weiter. „Oh Gott! …“, mit der Hand über den Lippen zwang sie sich zur Ruhe. In strahlenden Farben, welche selbst im Dimmerlicht hervorstachen, eröffnete sich ein Torso mit den Organen in situs inversus. So etwas hatte sie nur einmal in der Pathologie-Vorlesung gesehen, als anatomische Zeichnung und dann auch nicht so detailverliebt. Als würde sie eine Fotographie der inneren Organe, in ihrer spiegelverkehrten Lage betrachten. „Wahnsinn.“
Maria stolperte voller Anspannung weiter, nun wollte sie Alles sehen!
Ein Portrait, nicht das ihres Doppelgängers starrte sie an. Maria wusste nicht recht, ob sie erneut enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Schließlich stammten die Bilder alle vom gleichen Künstler mit der abschreckenden Imagination; sie waren mit C.L.H. signiert. Der Mann mittleren Alters, mit tiefen Ringen unter seinen blutunterlaufenden Augen, grimmigen Lippen und kurzen angegrauten braunen Haar, was in alle Richtungen abstand, war nichts, was Maria beruhigte.
Gegenüber des schaurigen Herren schmunzelte sie ein Mädchen im roten Pullover an. Sie hatte halblanges, dunkles Haar, tiefdunkle, alte Augen und ein Blässe, welche Maria bisher nur einmal begegnet war. „Charlotte?“, nein, das konnte nicht sein. Dieses bleiche Kind glich Charlotte vermutlich genauso wie ihre Doppelgängerin ihr oder der Mann irgendjemand anderem. „Sowas kommt vor! Jeder hat einen Zwilling!“, krächzte Maria in keine bestimmte Richtung und entdeckte den Ihrigen direkt neben dem Mädel.
Erstarrt blieb sie wie angewurzelt davor stehen, Schweißperlen rannen ihr den Nacken hinab und klebten auf ihrer Stirn. „Hach! Du siehst mir gar nicht ähnlich! Hach den Lockenkopf trage ich schon seit Jahren nicht mehr!“, Maria setzte ein breites, wenn auch sehr schiefes Grinsen auf und stapfte erneut drauflos.
Sie würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, aber eine Zigarette wünschte sie sich nun sehnlichster denn je.
Kurz vor dem Zugang zum nächsten Klinikbereich entdeckte Maria einen Spiegel und drapierte sich davor. „Die wollen wohl, dass man sich noch mal herrichtet nach dem Trip… nicht dumm.“ Ihr stockte der Atem, denn nicht sie sondern eine Fratze mit weitaufgerissenen Augen und verschobenen Gesichtszügen sah sie an. Maria entfuhr ein markerschütternder Schrei.
Ende Kapitel 3
Fortsetzung folgt