Auf Umwegen_Kapitel 2

Katze4Kapitel 1

Kapitel 2

– IV –

Eine unheimliche Stille, wie sie sonst nur in finsteren, unheilvollen Stunden zu finden ist, lag über diesem so sonnigen Mittwoch-Nachmittag. Das strahlende Hell nur grell und fast schmerzend in tränenbenetzten Augen, auf ungeschützter Haut.

Elke, die vom Chefarzt gebeten wurden war fürs erste die Klinik zu verlassen, stand nun am Rande einer kleine Gruppe von Kurgästen vor dem Haupteingang des Haus Instenburg und wartete, wie alle anderen, gebannt darauf zu erfahren, was passiert war. Das kurze Aufheulen eines Martinshorns gebot die Runde den Weg zu räumen. Elke, welcher gar nicht aufgefallen war, dass sich ein Krankentransport dem Gelände genähert hatte, blickte beinahe mit so was, wie Faszination auf die beiden Sanitäter, welche ohne groß Aufhebens zu veranstalten schweigend das Haus betraten. Die betretene Stimmung, die in dieser Form aus Erfahrung blüht, schaffte es schließlich auch Elke zu erreichen und in Sorge zu versetzten für Menschen die ihr fremd, für Schicksale, die ihr unbekannt waren.
Gemurmelte Worte erreichten Elkes Ohr – Klarheiten umwickelt mit Theorien.
Als die Eingangspforte sich erneut öffnete, eilten die beiden Sanitäter in Begleitung zweier Schwestern und einer Bahre zurück zum Wagen, verließen eiligst das Gelände, den Wald, die bedrückten Gesichter.

Einige Minuten vergingen nun in Schweigen, in Anspannung, in Gedanken.

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„die Gedanken bei Hanna D.”

In wenigen Tagen würde sie also wieder heimkehren.

Nach Acht langen Wochen, die erst so voller Wut, dann Resignation und letztlich fast unbeschreiblicher Freude für Hanna waren.

Nie hätte sie damit gerechnet, wie sehr ihr der Wald, die Ruhe, die anderen Leute ans Herzen wachsen würden. Dass sie, nachdem man sie herzukommen, gezwungen hatte sich inzwischen eigentlich gar nicht mehr vorstellen konnte, abzureisen und all dies, all die Erfahrungen hinter sich zu lassen.
Doch genaue Vorstellungen waren es auch, die Hanna in ihrer Zeit im Haus Instenburg endlich entwickeln gelernt hatte, denen sie folgen wollte und würde. Denn nie mehr mochte sie sich so verloren fühlen, wie zuletzt.

So viele Wünsche und Träume, so klare Ziele und Pläne – die konnte sie glatt schmecken. Keine Fragen mehr, keine Bedenken, kein Aufgeben… Was könnte sie jetzt noch aufhalten, wenn nicht sie sich selbst.

Nein, jetzt konnte sie beginnen: ihre Zukunft!

Was war nur geschehen, dass Hanna D. (17) sich das Leben hatte nehmen wollen?

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Elke war stolz auf ihren Artikel, auch wenn die Frage noch zu klären galt, ob dieser es je in den Druck schaffen würde.
Zu zittrig und aufgeregt, um den recht weiten Weg durch den Park zurück nach Eatrich zu Fuß zu bewältigen, nahm sie nur zu gern Doktor Hinterseer‘s Angebot an, sie mit dem Fahrdienst der Klinik in die Siedlung im Nordwesten der Stadt und somit bis nach Hause zu fahren.
Die Notizen des Erlebten waren schnell ins Reine gebracht, erhoben neue Fragen, neue Ideen, neue Befürchtungen, schafften keinen Schlaf. Elke war müde, wie nie zuvor und zugleich so aufgekratzt, dass ihr der Kopf zu platzen drohte. Obgleich sie eigentlich ganz begeistert davon war, dass der Artikel so viel- und zugleich nichtssagend daherkam, brannten ihr die Fragen über das „Wieso und Warum“ nicht bloß unter den Nägeln, sondern komplette Löcher ins Gemüt.
Und so drehte sie schließlich Kreise durch die kleine Zweiraumwohnung, die sie seit ihrer Rückkehr ins heimatlich Bekannte, ins so oft Verfluchte, jetzt wieder fast liebgewonnene Städtchen mitten im Nirgendwo bewohnte. Stieß sich an grauen Türrahmen, stolperte halb über den alten Ledersessel, der verstaubt den Platz im Wohnzimmer versperrte, verschob alsbald den kleinen Couchtisch, trat bis ans Himmelbett und begann die nächste Runde.
Stunde um Stunde vergingen, ließen die Schatten sich verlagern, zogen an ihr unbemerkt vorbei; noch immer keine Ruhe selbst spät in der Nacht und Elke ging auf und ab.

Unsicher, ob sie lieber für sich sein wollte oder nie wieder, lief Elke letztlich zum krönenden Abschluss dieses so anderen, so einzigartigen, so erschreckenden Tages ein wenig ziellos im Ort umher. Sie merkte nicht einmal, dass ihre Beine sie vor Ruby‘s Haustür getragen hatten und war entsprechend überrascht, als diese verdutzt und verschlafen im mit Bambus bemusterten Hausmantel plötzlich vor ihr stand.
Ein Blick auf Elke genügte allerdings, diese ohne ein Wort der Klage, ohne Fragen zu stellen und ohne Antwort zu verlangen, bei der zu kalten Hand ins Hausinnere zu führen. Diese dann in Decken zu hüllen und ihr das leicht zerzauste Haar zu streicheln, bis sie schließlich endlich schlief.

– V –

Morgengrauen brach, stürzte herab, fiel über die Region, als wäre ein Lichtschalter ohne Vorwarnung betätigt wurden; ganz typisch dem Sommer.
Der geneigte Frühaufsteher würde angeknipst, dem ersten Tageslichte ähnlich, die Lider aufschlagen, sich aus den Decken rollen, die Aufgaben angehen. Dem Rest war nur zu wünschen, dass sie es mit Humor nahmen oder gut verschlossene Jalousien besaßen.
Dem allgemeinen Aufstöhnen und Fluchen in Eatrich‘s Straßen entnahm das kleine schwarz-weiße Kätzchen, dass die meisten Fenster, in der Hoffnung auf nächtliche Frischluft, unbedeckt geblieben sein durften, dass es viel weniger Frühsteher gab, als landläufig behauptet und diesen der nötige Humor zu fehlen schien, den man gegen 4Uhr morgens vor dem ersten Kaffee noch würde brauchen können.

Elke war keine geborene Frühaufsteherin, hatte nicht im eigenen Bett geschlafen und verfügte über Humor erst nach Acht. Jedoch war sie an diesem Donnerstag noch vor dem Hahn bereits erwacht und in ihre Tagesplanung, samt der Notizen und den ungeklärten Fragen vom Vortag gestürzt.
Eifrig blätterte sie mit der rechten Hand in ihren Unterlagen, noch eifriger aber kraulte sie die kleine Katze mit der linken. Das so sorgsam in Form geleckte Fell schon ganz struppig, die schwarzen Öhrchen bereits angelegt, die Miene leicht finster inzwischen und dennoch Tilli hielt still. Sie ließ zu, dass Elke sie als Anti-Stress Ball nutzte, bis alle Anspannung aus deren Fingern geflossen war oder eben Frauchen endlich auch aus ihrem Bette rollen würde.

***

Wie befürchtet, blieb eine Diskussion um ihren neuesten Artikel Elke nicht erspart. Kostbare Stunden vergeudeten sich somit im sinnlosen Streitgespräch. Zeit, die sie damit hätte zu bringen können, einen neuen Termin mit Doktor Hinterseer zu vereinbaren oder vergeblich zu versuchen Clara‘s Lebensgefährten oder zumindest einen ihrer Kollegen zu erreichen… ach, so viele Verben mit zu-Präfix… Lächerlich dieser sture Mann! Warum konnte er die Wichtigkeit ihrer Aufgabe nicht angemessen wertschätzen und ihrem Spürsinn einfach blindes Vertrauen schenken?

Herr Bujahn, der Zeitungsverleger dritter Generation – ein Mann mit lichtem, mausgrauem Haar, einer täglich rotierenden Auswahl an bunt karierten Hemden und schwarzen Anzughosen, die in Elkes Augen alles über seine geradezu übersprudelnde Persönlichkeit und seinen Sinn für Veränderungen aussagten – konnte, hach, wollte sie einfach nicht verstehen. Wollte nicht begreifen, dass die regionale Presse nicht immer nur angefüllt sein sollte mit Ankündigen, Stadtfest-Berichten, Anzeigen und der sporadische Todesanzeige. Dass die Zeitung vor allem auch die wichtige Aufgabe, nein, die Pflicht hatte auch von unangenehmeren Realitäten des Lebens zu berichten und die Leser aufzuklären.

„Das Haus Instenburg ist ein Teil dieser Stadt und damit auch all das Gute und Tragische, was dort geschieht.”, erhob Elke ihre von zu wenigen Stunden Schlaf noch recht kratzige Stimme.

„Man kann sich doch nicht einfach aussuchen, was eine Berichterstattung wert ist oder?”, setzte sie ohne Pause nach.

„Natürlich würde ich nie die Geschichte von Hanna Drubert unnötig ins Rampenlicht ziehen!”, raunte sie jetzt empört vom zweifelnden Gesichtsausdruck des Redakteurs.

„Aber wir als Presse haben die Aufgabe auch bittere Themen zu beleuchten. Wer, wenn nicht wir könnte solch einem Ereignis schon die angemessen Aufmerksamkeit schenken? Wer hat schon die Chance ganz offen unschöne, aber wichtige Fragen zu stellen und auch Antworten darauf zu erhalten? Wer sonst ist dazu in der Lage die breite Masse aufklären?”, schloss sie ihren mittlerweile tosenden Monolog schließlich ab.

Wütende Tränen suchten sich einen Weg über Elkes vor Erregung gerötete Wangen und dem Verleger der Tagespresse blieb nur noch zu nicken und sie ihres Weges zu schicken.

***

Natürlich hatte Elke etwas, gut mehr als etwas, dick aufgetragen in ihrem Vortrag zur Wichtigkeit der Eatricher Tagespresse, doch der Pathos schien das Einzige, was den eingestaubten Redakteur am Ende weichzuklopfen vermochte. Sie konnte ihm ja wohl kaum all das verraten, was sie selbst nur gerüchteweise und aus Halberzählungen wusste.

Ein jeder in der Patientengruppe kannte Hanna Drubert, welche mit ihrem achtwöchigen Klinikaufenthalt mehr Zeit im Haus Instenburg verbracht hatte, als der Rest der kleinen Runde. Sogar jene, die das Mädel erst vor ein paar Tagen das erste Mal trafen, sahen sich offenbar dazu in der Lage sich eine Meinung über den Teenager zu bilden oder wenigstens einzubilden. So recht wollte es sich über die vielen ‚Bekannten‘ allerdings nicht aufklären lassen, was die genauen Gründe für Hanna‘s Aufenthalt in der Klinik gewesen waren. Doch die Formulierung „schlechten Einflüssen entgehen” gepaart mit dem sich anschließende Verhalten betreten zur Seite schauen, kam mehr als nur einmal auf.
Was für „schlechte Einflüsse” gerechtfertigten es also, um jemanden in eine Rehabilitationseinrichtung für neurologisch und psychosomatisch erkrankte Menschen zu schicken? Denn so schlecht es einem auch gehen konnte unter dem Einfluss von Erkrankungen, die mit Hilfe solch einer Einrichtung behandelt werden sollten, als wie auch immer geartete Einflüsse wurde so etwas nicht deklariert; jedenfalls nach Elkes Erkenntnis. Das erschien Elke weitaus interessanter, als dass Hanna anfangs ungehalten, später ruhig und letztlich aufgeblüht gewirkt hatte.
Dies erwartete Elke von dem Ausgang einer erfolgreichen Reha!
Selbst die anfängliche Wut war kein seltener Umstand, besonders wenn Patienten erstmals und im Rahmen einer Heilanschlussbehandlung dort waren. Um das zu wissen, hatte sie nicht einmal Ruby benötigt. Nein, wie so viele gehörte Elke zu der Kategorie Menschen, „die da wen kannten”… tja und das Gefühl der Wut folgte ganz gerne nach dem Erstschock und der Ungläubigkeit. Elke war der Meinung, dass wütend sein, der erste sinnvolle, weil aktive Punkt einer jeden Trauerverarbeitung darstellte. Dem widersprach Ruby natürlich.
Doch unabhängig von den Gründen, welche zu Hanna‘s Einweisung, denn diese war nicht ihre eigene Entscheidung gewesen, geführt haben mochten, ihr war es offenkundig gut gegangen inzwischen. Sie hatte jetzt Pläne. Wollte endlich einen anständigen Schulabschluss, vielleicht ein Studium beginnen.
Was sie von all dem so augenblicklich hatte abkommen lassen, war eine Frage, auf die nicht nur die besorgte Patientenrunde eine Antwort haben wollte.

Die Gruppe war letztlich unter Kopfschütteln, finsteren Blicken und mit Worten, wie „unfassbar”, „traurig” und „sinnlos” ins Gebäude zurückgekehrt.
Elke, der vollkommen bewusst war, wie heikel ein solches Thema wirklich war und wie sehr es immer auch andere treffen wird, trifft jemand so eine schwerwiegende Entscheidung, wandte sich entsprechend nicht an Ruby mit ihren Theorien. Sie wollte niemals den Eindruck erwecken, sie wüsste genau um solche Hintergründe und könne es auch nur im Ansatz beurteilen, was eine Seele letztlich soweit abtreibt.
Und doch kam Elke nicht umhin eigene Überlegungen anzustellen, was in Hanna Drubert‘s speziellen Fall die Ursache für diese so verzweifelte Handlung gewesen zu könnte.
Vielleicht hatte Hanna mit einem mal Angst oder Zweifel bekommen sich zurück ins häusliche Leben zu wagen oder davor dass sie den „schlechten Einflüssen” nicht würde aus dem Weg gehen können, war sie erst einmal wieder daheim.
Vielleicht war es der Schock und die Trauer über Clara Wiltau‘s so überraschendes Ableben.
Oder aber, und nun prickelte es in Elkes Ohren, vielleicht war Hanna an diesem Ableben nicht ganz unschuldig und hatte Panik bekommen, als da unerwarteter Weise jemand begann Fragen zu stellen.

Es gab noch so viel Unklares, so viele Fragen, die Antwort verlangten, bevor Elke auch nur beginnen konnte wirklich brauchbare These aufzustellen und sich nicht lediglich in haarsträubenden Ideen zu verlieren. Sie wollte schnellstmöglich zurück in die Klinik und mehr über Hanna und ihre ominösen Lebensbedingungen in Erfahrung bringen. Auch wünschte sie sich mehr über Clara‘s Zeit im Haus Instenburg und deren Persönlichkeit zu erfahren. Genaueres zu lernen über eine mögliche Bekanntschaft der beiden Frauen, wenn nicht sogar eine Verbindung ihrer beiden Schicksale – auch das war Elkes Ziel. Dass Doktor Hinterseer oder einer seiner Kollegen ihr bei der Suche nach Antworten ernsthaft behilflich sein konnten, wagte Elke stark zu bezweifeln; Informationen über die seltsame Bilderausstellung jedoch erwartete sie, bei allem Arztgeheimnis, dennoch.

Ja, viel Arbeit lag vor ihr.

***

Entgegen der Meinung von so manch einem sind Katzen durchaus dazu in der Lage entnervt in sich hinein zugrummeln oder eher gut hörbar ihren Unmut mitzuteilen.
So saß nun auch Tilli ungehalten schnattern auf ihrem liebsten Aussichtsplatz am Markt. Ein Auge aufs Geschehen, den Rest der Aufmerksamkeit für den zweiten Durchlauf ihrer Morgentoilette. Elke hatte wirklich ganze Arbeit geleistet, brummte das Kätzchen so zynisch, wie es nur Katzen konnten. Selbst Ruby‘s lieb gemeinter Versuch das fast verfilzte Fell zu richten, schaffte nicht im Ansatz den gehobenen Standard, den eine jede Katze gerecht werden sollte. Den Schwall Beschwerden nie unterbrechend – Multitasking ist alles – kratze sie sich hinter den Ohren, kaute die Nägel, und leckte nun auch das weiße Bauchfell glatt.
Das Eintreffen Heidrun‘s bemerkte die kleine Katze natürlich trotzdem. Genau wie die, immer zusammen auftretende, Frauenrunde dies mitbekommen und eilends jede Unterhaltung unterbrochen hatte.
Schließlich spricht man weder schlecht von den Toten noch denen, die in Hörweite stehen.

Heidrun, in ihrem eng anliegenden, langen, perlmutt-farbenen Kleid, welches seitlich ein Muster aus Ginstern zierte, wirkte ein wenig beherrschter, als sie es in der letzten Zeit gewesen war. Nicht auffällig ernst oder bedrückt, nur tief in der Art Gedanken versunken, die man ungern mitteilt, die man aber vermutlich lieber teilen sollte.

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Schrilles Lachen erreichte ihr Ohr und Clara fragte sich, was es wohl diesmal war, dass die halbe Belegschaft so amüsierte; nicht, dass sie es verstanden hätte, selbst wenn man sie darin einweihen würde.
Clara begriff es schließlich nie so ganz. Dessen wurde sie zumindest tagtäglich versichert. Manchmal irritierte sie dieser Umstand dann genug, und sie traute sich direkt zu fragen, worum es denn ginge, sogar zu bitten, dass man sie darüber aufkläre, worin der tolle Scherz lag… und woran es lag, dass sie nie so ganz nachvollziehen konnte, was alle anderen stets erheiterte. Doch dann würde sich immer nur Schweigen über die Runde legen. Bis dann einer laut loslachte und die angespannte Stimmung löste. Bis es schließlich wieder hieß:

„Ach Clara, du bist süß!”

Und dann würde auch sie lachen.

Wenn alle lachten, tuschelten sie wenigstens nicht, tauschten sie keine wissenden Blicke aus…

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Elke schluckte hörbar, rieb sich langsam über die Wangen, kniff in die Halsfalte, denn sie verspürte noch immer den schweren Kloß im Hals, der das Telefongespräch mit Clara‘s Kollegin in ihr ausgelöst hatte. Und obgleich sich ihr Verständnis über Claras Leben und somit ihr Artikel stetig entwickelte, zeichnete sich doch Stück für Stück ein immer bedrückenderes Bild:
Kurz bevor Elke sich aufmachen hatte können den geplanten Ausflug in die Klinik anzutreten, war es ihr Telefon, das klingelte und war es sie, welche verlangt wurde von einer dünnen Stimme am anderen Ende einer recht wackeligen Leitung.
Eine Magda, wie sie meinte, eine Kollegin Clara‘s und sicher die einzige, die bereit war mit ihr zu sprechen. Auch das teilte Magda ihr in einem beinahe zischenden Ton mit.

„Nicht, dass Sie glauben, es gäbe groß was zu erzählen… Clara war nett, sehr schüchtern und immer zuvorkommend… nur… sie passte halt nicht ganz ins Team… was sie sicherlich spürte…”
Elke, die natürlich genauer wissen wollte, was diese Magda damit meinte, bohrte nach. Fragte, ob Clara der Arbeit eventuell nicht gewachsen gewesen oder den Ansprüchen nicht gerecht geworden war.

„Nein, nein… sie war schon sehr gut. Wusste stets was es zu beachten galt… machte hervorragende Zeitpläne und dachte nicht nur mit, sondern voraus… schließlich war sie ja die persönliche Assistentin von Tony… ehm der Geschäftsleitung…”

Die Stimme schwieg, als gäbe es nicht mehr zu sagen dazu. Elke schwieg auch, denn das konnte auf keinen Fall das Ende vom Lied sein.

„… ehm sie war halt nur irgendwie anders. Verstehen Sie? … Natürlich verstehen Sie das!.. Hat irgendwie nie geschnallt, wenn Dinge lustig waren oder eben ernst… sie hatte auch keine Familie und nicht mal Freunde, soweit ich weiß… da war nur Tony und der… na ja… er war sehr geduldig mit ihren Schrullen, hat sie aber nie bevorzugt – macht man ja auch nicht als guter Chef – und… sie wurde in letzter Zeit halt schussliger, langsamer… und das kam nicht so gut an… verständlich, nicht wahr.”

Tief durchatmend, verbat Elke es sich Magda‘s Ausführungen mit ihrer Meinung zu verständlichem Benehmen zu unterbrechen.

„… ja, er war sehr geduldig… es wurde aber nicht besser… sie wurde nur viel ruhiger… fast so, als wolle sie verschwinden; irgendwie tat sie es auch… na und dann hab ich Clara gesagt, sie soll lieber krank machen… sich richtig erholen und so… das Haus Instenburg hat nen guten Namen und Doktor Hinterseer ist renommiert und ich kenne da wen… und nur mir hat sie es zu verdanken gehabt so schnell einen Platz zu kriegen… auch wenn ich es Tony nicht verraten habe… das dürfen Sie bitte auch nicht! …ehm”

Elke sagte demgegenüber sofort zu und Magda war beruhigt fortgefahren in ihrer Erzählung. Sie hatte mit ihrer und der allgemeinen Meinung der Belegschaft zu den Plänen von Clara‘s Wunsch nicht nur den Beruf zu wechseln auch nicht hinterm Berg gehalten. Jeder hätte auch Tony‘s Reaktion vollkommen nachvollziehen können und „Sie sicher auch, wenn Sie ehrlich sind, nicht wahr?”
Die Bitte doch nicht mehr anzurufen, holte sich Magda noch ab, bevor diese ihr alles Gute für ihre „kleine Reportage” aussprach und das Gespräch abrupt beendete.

Elke rieb sich nun die müde Augen, kreiste mit den verspannten Schultern, blickte vor sich ins Leere und an den Notizen vorbei.
Das Telefongespräch hatte sie geschafft und geschafft war sie nun wirklich. Sie fragte sich, wie es passieren konnte, dass Leute so miteinander umgingen. Ein Schnaufen, was kein Lachen war, suchte sich seinen Weg aus Elkes Nase; so ein bisschen, wie im Schulflur diese Art Gruppendynamik. Ihr war es auch unbegreiflich, wieso Clara so lange fähig gewesen war es auszuhalten in solch einer Situation zu existieren – so allein in einem Raum so voller Menschen. Und dann war sie nicht einmal selbst auf die Idee mit der Reha gekommen?! Der Gedanke daran, was wohl noch alles hätte geschehen müssen, damit Clara ohne Anstoß von außen sich hätte helfen lassen, drehte Elke fast den Magen um. Pff, „so geduldig, aber natürlich nichts durchgehen lassend“ als Charakterzug gehörte Elkes Meinung nach immer im Kontext betrachtet. Und in diesem ihr gerade erläuterten, nahmen diese positiven Eigenschaften recht dunkle Züge an.
Nach allem, was Elke gerade gelernt hatte, stand es für sie umso mehr außer Frage auf eine persönliche Begegnung mit Clara‘s ehemaligen Lebensgefährten, diesem „Tony” zu verzichten.

Nein, sie würde keine Ruhe geben!

Nicht das Elke jetzt Zeit zum Ruhe geben hatte oder aber für den geplanten Besuch in der Klinik. Bujahn beorderte sie nämlich mit einem Mal zum Marktplatz raus, um doch über die Entscheidung des Stadtrates zum Thema „Waldweg-Problem” zu berichten. Er duldete keinen Widerspruch, was Elke genug beeindruckte, um Ausnahmsweise mal keinen zu leisten.
So stand sie schließlich, als eine unter allen bereit dem Bürgermeister im schlecht sitzenden grauen Anzug die Geduld und Aufmerksamkeit zu schenken, derer es bei jeder seiner Ansprachen bedurfte. Willens, aber nicht fähig, ob des weiterwachsenden Kloßes im Hals. So stehend mitten unter dem Rest von Eatrich‘s Einwohnerschaft, sah sich Elke um so deutlicher an das Telefongespräch erinnert, je länger sie am Marktplatz auszuharren hatte. Eckard Ballart‘s langsam und überdeutlich gehaltene Rede tröpfelte schwer auf Elke herab, vermischte sich mit dem Schweiß auf ihrer Haut und wollte sich in ihrem Kopf einfach nicht zu sinnvollen Einheiten zusammenfügen.
Elke wäre bestürzt, wusste sie nicht um Ruby, deren Nähe sie inzwischen spüren konnte, welche alles Wichtige für sie bei einem Glas Weißwein wiederholen würde.

***

So schnell, wie das Tageslicht die Stadt getroffen hatte, so langsam zog es sich nun zurück. Diesmal kein Wolkenmeer, noch nicht einmal ein kleines Wölkchen war zu sehen. Der klare Himmel versprach die so beliebte freie Sicht auf die zahllosen Sterne über Eatrich, verhieß aber auch eine kalte Nacht und damit einen noch heißeren nächsten Tag.
Die kleine Katze, die den ausgetauschten Höflichkeiten des Tages gefolgt war, fand nun endlich ersehnte Ehrlichkeit in den ruhigen Abendstunden. Selbst wenn die Menschen hinter den Glasscheiben nur über Irrelevantes zu reden wussten oder eine jede Bemerkung mit Beschönigungen umwickelten. So wagten sie es ohne die Zeugen des Bekanntenkreises wenigstens offen mit einander zu sprechen, sich auch mal uneins zu sein, wahre Gefühle zu zeigen oder eben nichts mehr zu sagen, wenn es eben nun mal nichts Gutes gab.
Die Unverblümtheit hinter verschlossenen Türen und halb geöffneten Fenster zeigte auch ihre wahre, wenn auch nicht so strahlende Natur, als das Kätzchen letztlich zu Heidrun‘s Haus gekommen war.

Der Strauß roter Rosen, zwei Tage und bedeutende Gespräche alt, vertrocknet und fern von opulent, erschwerte trotzdem nach wie vor die Sicht ins Innere. Diese Blumen nun boten keinen Duft, stellten nichts mehr da, doch sagten ganz stumm so vieles aus.
Unerwartet drang Heidrun‘s leicht schwächliche Stimme an Tilli‘s Ohr, als diese fast drauf und dran war weiterzuziehen:

„…okay, was immer du willst …ja, natürlich …sowas kommt vor …ich habe sie erhalten …danke, ist wunderschön …meld dich einfach, wenn dir danach ist …ja?”

Ein kurzes Schniefen, ein tiefer Atemzug, dann ein Räuspern und Heidrun trat ans Fenster. Sie nahm den vertrockneten Rosenstrauß herunter und stellte eine schmale Vase aus tiefblauem Glas mit einer einzelnen weißen Inkalilie hinein. Dem Kätzchen schenkte sie noch ein kurzes Lächeln und schickte es mit einem leichten Stupser auf den Rest ihrer Abendrunde.

– VI –

Das ein neuer Tag neues Glück bringen könnte, fing Elke mit jedem neuen Tag dieser viel zu langen Woche an ernsthaft zu bezeifeln.

Sie war kaum aus der Wohnungstür getreten, da war sie bereits wieder klatschnass vom Schein der bereits brütenden Morgensonne.
Um wirklich genervt zu sein, reichte ihre Kraft schon nicht mehr. Auch brachte es nichts das dünne gelbe T-Shirt mitsamt des knielangen grasgrünen Rockes zu verfluchen – weder in sich hinein gebrummt noch in die Welt posaunt. Elke hatte nun mal einen anständigen Eindruck bei ihrem Termin mit Herrn Doktor Hinterseer hinterlassen wollen und da konnte sie ja wohl kaum in ärmellosen Hemdchen und Minirock erscheinen? Nicht das sie sich jemals in einen solchen Aufzug gewagt hätte. Nein, es war ihr wichtig ernst genommen zu werden und das bedarf eben auch angemessener Kleidung. Also kehrte Elke auf ihren Weg zum Haus Instenburg nochmal bei Ruby ein und folgte deren Vorschlag einen Stoß Wechselkleidung mitzunehmen, um sich dann vor Ort wieder aufhübschen zu können.

Was tat sie nicht alles für den Beruf!

***

Den Umweg über den, wieder freigegeben, Waldweg ließ Elke sich trotz des fiesen Wetters nicht nehmen.
Sie wollte möglichst noch vor allen anderen einen Blick auf die Fundstelle von Clara Leichnam werfen. Denn da diese eigens mit einer Gedenktafel versehen werden sollte, würde es, zumindest in nächster Zeit, einigen Andrang geben auf dem Eatricher Stadtwaldweg.
Die meisten Leute reagierten während der Versammlung am Vortag zwar mit Zuspruch auf die Wegfreigabe und die Idee zum Setzen der Tafel, aber eben auch verständlich verhalten bei der Erinnerung an den tragischen Todesfall. Entsprechend hoffte Elke, dass bisher noch niemand den Gang in den Wald gewagt hatte und sie so erneut nach Spuren des Vorfalls oder einer Störung der Stelle Ausschau halten könnte.

Alles war wie bei ihrem ersten Besuch, nur trocken… nur ohne die weiße Lilie.

***

Doktor Hinterseer‘s Büro im Obergeschoss des Klinikums war so absichtlich unscheinbar, wie der Mann, der es ausfüllte. Ließ einen jeden Besucher glatt vergessen, dass dieser sich gerade in Gesellschaft mit einer renommierten Persönlichkeit befand. Der recht kleine Raum lud aber auch und vielleicht sogar gerade deshalb zur Lockerung mitgebrachter Anspannungen ein:
Sowohl mit dem olivgrünen Farbton an der Wandseite, die dem Chefarzt im Rücken lag und als Blickfang für seine Gäste diente, als auch durch die breite, gitterfreie Fensterfront mit Sicht auf den Klinikgarten. Ein gut gefülltes Bücherregal aus Bambus, eine elegante Stehlampe und der beachtliche, aber bis auf des Doktors Laptop leere, Schreibtisch stellten die einzigen Möbelstücke dar.

Elke überlegte kurz, ob die Patientenakten wohl einen eigenen Raum hatten oder ob diese nur digitalisiert existierten. Ihre Gesprächszeit mit Reginald Hinterseer aber mit derlei Fragen aufzuhalten, kam ihr nun wirklich nicht in den Sinn. Welchen Zweck würde das auch erfüllen? Es war ja nun nicht so, dass Elke auf Akteneinsicht hoffen konnte.
Nach einem kurzen Austausch angemessener Höflichkeiten rollte das Interview zielstrebig voran.
Elkes Frage nach den Gründen, aus denen er und nicht Clara Wiltau‘s Lebensgefährte und Bevollmächtigter ihren Leichnam identifiziert hatte, war knapp mit einem „Er war halt nicht zu erreichen.” geklärt. Genau die gleiche Antwort bekam Elke dann auch, als sie wissen wollte, ob er denn Anton Nauer je getroffen hatte. Seinen Missmut Clara‘s Partner gegenüber zeigte Doktor Hinterseer – professionell wie er nun einmal war – nur in der stark geschulten Mimik und der sich bei jeder Erwähnung von Nauer‘s Namen kurz verkrampfenden linken Hand.
Die Hintergründe von Clara‘s Reha-Aufenthaltes hielt der gute Doktor mit dem Terminus „Lebensumstände” mehr als vage, aber bestätigte dadurch alles, was Elke bis dato hatte in Erfahrung bringen können.
Über ihre Frage nach einer eventuellen Bekanntschaft oder dergleichen mehr zwischen Clara Wiltau und Hanna Drubert hob er nur die Brauen und gab Elkes Frage mit dem Nachsatz „Wie genau erhoffen Sie sich das in Ihrem Artikel einzubinden?” an sie zurück.

„Fräulein Drubert‘s Entscheidung war unbeschreiblich tragisch, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie diese ohne tiefere Gedanken an Frau Wiltau getroffen hat und möchte Sie dringlichst bitten keine vorschnellen Urteile und Unterstellungen über Personen und Schicksale in die Welt zu posaunen, von denen Sie nicht das Geringste verstehen!”
Elke schlug beschämt die Augen nieder, entschuldigte sich hastig, beschwor sich nichts bei der Frage gedacht zu haben und versicherte eine respektvolle Reportage schreiben zu wollen über eine Nachbarin, die sie und die meisten im Ort, leider nie kennenlernen durfte.
Doktor Hinterseer ließ sich beschwichtigen und gab ihr die Erlaubnis Gespräche mit dem Personal und Clara Wiltau‘s Mitpatienten zu führen, sollten diese das wünschen – abgesprochen mit den Beteiligten war dies bereits.
Kurz bevor der Termin für beendet erklärt werden konnte, schob Elke doch noch ihr Anliegen über die Gründe der Ausstellung ein und trat so eine ganz neues Rätsel los:

„Ja, ist etwas ungewöhnlich, stimmt…”, ein kurzes Räuspern, „…die Bilder sind schon was Besonderes…”, ein deutlich vernehmbares Schlucken, „…sie sollen ein wenig Werbung machen für unser neues Kunstprogramm.”, schloss der Doktor nach einer merklichen Denkpause ab und schien drauf und dran sich zur Verabschiedung von Elke zu erheben.

„Der Gang ist doch überhaupt nicht für die Öffentlichkeit zugänglich… Das waren Ihre Worte an mich, als ich mich da hinein verirrt hatte!”, polterte Elke entschlossen los. „Wie genau soll die Galerie dann zur Werbefläche dienen?”, setzte sie schnell hinterher.

„Na der Korridor und der geplante Flügel dahinter, wird bald offen stehen…”, zischte Doktor Hinterseer und wirkte in Elkes Augen plötzlich irgendwie ertappt, als er schnell nachreichte „…und soll dann als eine weitere Anzeige für den Kurs dienen.”
Das war dann seine letzte Bemerkung dazu und „müsse ihr genügen, da das nun schließlich auch weit über den gesetzten Rahmen des Artikels hinausgehe.”
Was genau innerhalb des geplanten Flügels kommen werde, würde sie, wie alle anderen auch bei der offiziellen Verlautbarung hören und könne dann darüber berichten.

Ein wenig im Konflikt sich mit Halbantworten und Deflektionen zufrieden geben zu müssen, setzte Elke ein gestähltes Lächeln auf, reichte höflich und in Dankbarkeit ihre Hand zum Abschied und stellte sich schließlich dem Rest ihres Tagesplans.

***

Das Licht der Spätmorgensonne umspielte Heidrun Rühlich‘s leicht müde Züge, glättete die Fältchen von schlaflosen Nächten und gab dem Graugrün ihrer Augen einen besonderen Glanz. Das vollgeblümt gemusterte Sommerkleidchen, was so hervorstehen müsste inmitten der edel und formal gekleideten Eatricher Frauen wurde zur schönsten Form der Camouflage, nun da Heidrun mal wieder vor dem Blumenstand am Marktplatz stand.

Könnten Katzen schmunzeln, Tilli täte es bei diesem Anblick der allgemeinen weiblichen Entrüstung und verschwiegenen Bewunderung, welche ihre Kreise über den Platz vorm Rathaus zog.

***

Die Gesamtzahl an Kurgästen war schon nicht groß und die, welche Clara näher gekannt hatten und selbst noch in Behandlung waren damit umso kleiner.
Dass das Haus Instenburg beabsichtigter Weise nie ganz voll ausgelastet wurde, war von dem noblen Vorhaben geprägt auf möglichst jeden Patienten individuell eingehen zu können und durch die beachtlich gut finanzielle Lage der Kurklinik abgesichert. Denn das Gros der Gäste war privatversichert, gutbetucht und mehr als willig die Klinik auch nach Abschluss der Kurzeit weiter zu unterstützen. Doch auch die Rentenkasse teilte dieser noch recht jungen Klinik, mit dem überragend guten Ruf, inzwischen nur zu gerne Reha-Nehmer zu.

„Und überhaupt, sollte Ihnen mal nach einer Pause zumute sein, sind Sie hier herzlich willkommen und werden sich wohlfühlen!”, rief der strahlende Pfleger Elke noch nach, bevor er in seine Mittagspause eilte.

„Hier bin ich Mensch. Hier fühl ich mich wohl.”

Elke schauerte es ein wenig so sehr an das Eatricher Stadtmotto erinnert zu werden. Sie kniff die Augen zusammen, atmete ein „Ommm” aus und lief anschließend zielstrebig auf die kleine Gruppe Menschen, welche man ihr zum interviewen zugewiesen hatte zu. Dass dies auch zufällig dieselben waren, derer sie zwei Tage zuvor gelauscht hatte, freute Elke natürlich ungemein:

„Ach, Clara war wirklich nett.”

„Ja, immer hilfsbereit.

„Aber schüchtern… so ein leises Stimmchen.”

„Hmm…”

„Machte es jedem recht.”

„Versuchte es…”

„Stimmt, ein wenig seltsam manchmal… aber sehr nett.”

„Hat sich mit allen verstanden…”

„…am Ende…”

Als Elke von den Zwistigkeiten, die es zu geben schien – vor dem Ende – mehr wissen wollte, wurde die gesprächige Runde eher kleinlaut. Elke sah sich schon wieder einer Sackgasse gegenüber, da brach erst einer los, dann alle übereinander her. Es war kein Streit, nicht einmal eine Diskussion, nur ein Übertreffen wollen an Bestätigungen, die Elke besonders nach ihrem Gespräch mit Magda erschaudern ließen. Denn alles, was sie nun hörte, hatte sie bisher zwar vermutet, jedoch im Stillen noch immer gehofft, falsch zu liegen:

„Ja, aber wie blind hätte sie sein müssen, um das nicht gleich zu sehen!”

„So ein Verhalten ist antrainiert… das merkt man nicht mal gleich… oder nie…”

„Wie viele Jahre sie sich das angetan hat?”

„Und nur gute Worte für ihn… pah!”

„Er hat sie nicht misshandelt – nicht für andere sichtbar…”

„…das macht es doch so verwerflich… und sie hat sich nur gefragt, was sie falsch macht.”

„…und dann immer seine Eifersucht… sie sagte ‚Sorgen‘ dazu…”

„…und die Selbstzweifel, die er gesät hat… sie vertraute seiner Meinung voll und ganz…”

„…”

„Kein Wunder, dass Hanna irgendwann der Kragen geplatzt ist. Bei allem, was sie so erlebt hat.”

„Ja, sie hat Clara ordentlich den Kopf gewaschen… die hat tagelang kein Wort mehr gesagt.”

„Konntest du ihr Hochgehalte von dem Typen etwa ertragen?”

Wieder war ein vernehmbares Schweigen über der Runde ausgebrochen.

Was denn Hanna passiert sei, wollte Elke schließlich wissen. Erreichte aber nur ein Auflösen der Gruppe und die Versicherung, dass sich alles zum Guten gewendet hatte für Clara letztendlich. Dass „sie aufgewacht war und nur noch nach vorne blickte…, dass dieser tragische Unfall nicht nur uns eines wirklich guten Menschen beraubt hatte…” und bevor diese selbst genau wusste, wozu sie fähig sei, setzte Elke noch in Gedanken nach.

***

Die Auseinandersetzung zwischen Clara Wiltau und der 17jährigen wurde von den Leuten mächtig aufgebauscht, steckte ihr dann Hinterseer, welcher sich genau diesen Moment ausgesucht hatte, um mal nach den Entwicklungen von Elkes Recherche zu schauen, wie er meinte.
Was dann folgte, war ein Monolog vom guten Doktor. Eine Rede, eine Vorlesung, eine Lektion über die Umgangsformen mit einem Leben, dass Hilfestellung bedarf:

„Es gibt im Grunde nur zwei Wege, wie und warum jemand sich für eine Rehabilitation entscheidet.
Zum einen, es wird darum gebeten. Denn es besteht die Erkenntnis, dass Hilfe benötigt wird und das Verlangen diese anzunehmen. Zum Anderen, die Notwendigkeit kann nicht selbst als solche erkannt werden, ist aber hinreichend dringlich. Dann wird der Betroffene der Bürde enthoben und die Entscheidung wird ihm oder ihr abgenommen.
Nicht immer aber sind die Wege hin zur helfenden Hand so eindeutig zu trennen; Sie können sich diese als die zwei Außenpunkte eines Spektrums vorstellen.
Die Reaktionen auf den angebotenen Hilfsweg sind entsprechend divers und genauso wenig einfach zu trennen. Auch kommt es gut und gerne vor, dass diese fast spiegelverkehrt erscheinen. Nur weil sich jemand diesen Weg ausgesucht hat, heißt es noch nicht, dass dieser sofort mit der nötigen Bereitschaft angenommen werden wird und umgekehrt.
Findet man aber einen angemessenen Umgang, dann wird die Rehabilitation als eine Möglichkeit dienen zu lernen, wie man sich selbst helfen kann. Und, wie man um Hilfe fragt, denn auch das ist eine Fähigkeit, die erlernt gehört, die einem beigebracht werden muss.”

Elke blinzelte bloß wild. Sowohl als Reaktion auf alles Gehörte also auch in Antwort auf die von Herrn Doktor Hinterseer nicht gestellte, dennoch implizierte Frage, ob er ihr denn hatte alles Wichtige erklären können. Nach einigen Schrecksekunden und vermutlich in Bestätigung von Hinterseer‘s Meinung über ihren Charakter, holte Elke dann doch noch eine Folgeerkundigung ein:

„Clara Wiltau hat die Reha also nicht so ohne weiteres als ihr helfend empfunden und Hanna Drubert war das ein Dorn im Auge, da diese hier zwar ursprünglich nicht freiwillig war, aber den Sinn erkannt hatte? Entsprechend gab es Streit zwischen diesen? Nein, warten Sie…
Hanna Drubert hatte im Gegensatz zu Clara Wiltau die Umstände für ihren Reha-Aufenthalt begriffen und das hatte zum Zwist geführt.”, drückte Elke schnell heraus und versuchte doch sehr sich nicht zu dumm dabei zu fühlen.
Doktor Hinterseer, mit dem Blick eines Menschen, welcher sich zu häufig wiederholen muss und dieses von Grund auf verabscheute, nickte bedeutend langsam. Um Elke von dem Missverständnis abzubringen, der kleine Disput hätte sich negativ auf eine von ihnen oder beide ausgewirkt, setzte er noch etwas missmutig nach, dass es letztendlich nur zu „positiven Entwicklungen für beide Damen” gekommen war; ganz gleich der Umstände. Und dass sie dadurch beide hatten „ihre Perspektive” erweitern können.
Bevor er sich letztlich von Elke abwandte, um sich wichtigeren Dingen zu widmen, legte er ihr noch den von der Kurklinik angebotenen Kreativ-Kurs ans Herz. Kurz durchfuhr Elke der Gedanke in einer schäbigen Werbeaktion gelandet zu sein, doch dann erinnerte sie sich wieder an Hilda Maurer und deren Erzählung über deren erste Begegnung mit Clara Wiltau.

Am nächsten Tag sollte der Kurs wieder stattfinden, hatte man Elke vor ihrer Rückkehr nach Eatrich versichert. Und diesem wollte sie dann auch beiwohnen, um noch mehr Informationen zu Clara zu erhalten. Aber auch, da die Bilder – die weiße Lilie – sie einfach nicht mehr losließen.

Im Augenblick wünschte Elke sich allerdings nur noch in Ruby‘s Gesellschaft zur Ruhe kommen zu dürfen und die Erkenntnisse dieses Tages, diese so unangenehmen Realitäten, fürs erste ad acta legen zu können.

***

Ein Grollen ertönte aus der Ferne, wie eine Ankündigung, eine Androhung gar.

Das schwarz-weiße Kätzchen war im Schreck erstarrt; lauschte, fühlte um sich ohne der Gefahrenquelle kundig werden zu können.
Dann aber Ruhe.
Krallen schoben sich zurück, Fell legte sich nieder, Muskeln entspannten und Tilli lief weiter. Durchschritt ihr Revier, beäugte all die blau flackernden Fenster, erkannte das schweigsame Gespräch dahinter. Ging an diesen vorbei und ihres Weges voran.
Dann wieder ein Grollen und nicht aus der Ferne und doch eine Ankündigung und noch mehr Androhung gar.
Ein Splittern von Glas, von schneidenden Worten. Ein Knallen von Türen, von berstender Rede. Ein Schluchzen, ein Wimmern, ein flehender Ausruf. Ganz laut und zu leise, sehr nah und zu fern. Geschützt und verborgen hinter durch gelbe Rosen geschmückten Scheiben.

– VII –

Über Nacht war ein Sturm aufgezogen und schob nun seit Stunden wild die brühwarme Luft hin und her. Es neigten sich die jüngeren Bäume bedrohlich, schwankend, wie Schilfgras im Wind. Auch brach es immer wieder Äste aus vormals so stolzen Kronen. Und Blätter, gerissen aus Sträuchern, aus Blumenbeeten, wirbelten in beachtlichen Windhosen durch den Stadtpark.
Ein Naturschauspiel, was besser hinter verschlossenen Fenstern oder durch Fernsehbildschirme betrachtet gehörte.
Das zumindest dachte sich Elke, als sie zähneknirschend und nur dank eines gut geglückten Ausfallschrittes nach links dem Ast einer Ulme ausgewichen war.
Oder waren das hier Erlen? Befragte sie ihren eigenen Unverstand gegenüber botanischer Genauigkeiten.

Ein großes, oval-förmiges Blatt klatschte an Elkes Stirn, wie um sie zur Aufmerksamkeit zu ermahnen und zügiger weiterzutreiben auf ihrem Weg zum Haus Instenburg. Den sie ja trotz aller gegenteiliger Belehrung von Ruby unbedingt hatte zu Fuß beschreiten wollen.
Was die Eile war, stand außer Frage. Warum sie nicht hätte versuchen können, mithilfe des Fahrdienstes zum Gelände der Klinik zu kommen, stand auf einem anderen Blatt – in einer fremden Sprache, stark verschmiert. Jedoch widersprach Elke innerlich vehement der Bemerkung, sie „hätte sich verrannt und war nun wie immer zu stur, um dies einzugestehen!“ Welche Ruby ihr durch schmunzelnde Lippen unter zu viel verstehenden Augen mit einer lieblich-beißenden Stimme lauthals nachgerufen hatte.

Was jetzt bloß blieb, war Zähne zusammenbeißen, Augen und Ohren aufhalten und einfach stur, ohne sich ablenken zulassen, … „Arghh” … den Schmerz im Arm zu ignorieren und zum Ziel zu gelangen.

***

Der Kurs war trotz der Wetterlage gut besucht mit seinen 15 Mitmachenden, wie die Seminarleiterin freudig bemerkte und was Elke nur erstaunt unterschreiben konnte. Nach einer knappen Erklärung darüber, dass die Gruppe sich heute, angesichts der „stürmischen Zeiten vor allen Fenstern” mit einem „individuellen Erkunden” von der „eigenen Gefühlsnatur” malerisch und in freier Auswahl an Arbeitsmaterialien verewigen würde können, sollte es „ohne große Umschweife“ dann direkt auch losgehen.
Elke unterdrückte ihr kurzes Prusten, ob der blumigen Wortwahl weit weniger, als sicherlich höflich gewesen wäre. Sie lächelte verlegen in die Runde aus leicht entrüsteten Gesichtszügen um sich und murmelte ihnen ein „Bin neu hier.” in Ersatz einer Entschuldigung und Begrüßung entgegen.

Die Leiterin des kleinen Kunstkurses – ein Mädel undefinierbaren Alters mit kurzem schwarzen Haar, einer spindeldürren Figur verpackt in einem tief-violetten, ärmellosen, knielangen Kleid und Flip Flops an den knochigen Füßchen – lachte lauthals los und löste dadurch blitzschnell die verhaltene Stimmung mitsamt der langen Gesichter. Zu Elkes Begeisterung und tatsächlich ohne Umschweife tauchte diese dann wieder in philosophische Erläuterungen über die Auswahl von unterschiedlichen Farben, Tuschen, Kreiden und Bleistifttypen ein. Sinnierte weiter über passende Malgründe und Pinsel. Und lies auch das Erwähnen von allerlei sinnvollen und unsinnigen Werkzeugen nicht aus.

Denn:

„Um sich kreativ auszuleben, gibt es der Wege viel und der Grenzen lediglich im Kopf“, eröffnete Charlotte Lessner fröhlich und im vollen Ernst der begeisterten Kursrunde.

 „Kunst liegt doch immer im Auge des Betrachters. Also scheuen Sie sich nicht auch einfach mal zu experimentieren und sich so richtig fallen zu lassen”, hauchte ihr Stimmchen weiter durch den Raum, während sie mit seitlich von sich gestreckten Armen die Weite des Feldes Kunst in Bedeutung und gebotener Auswahl mimisch darstellte.

Da einer Jeder, wie gebannt ihren Worten gefolgt war und nun scheinbar keines Schrittes mehr fähig, führte sie schließlich jeden einzelnen Teilnehmer persönlich zu einer Staffelei, bevor sie ihre Ausführungen mit einem nicht versteckten Schmunzeln und dem offenbar inoffiziellen Kursmotto „Im Zweifel ist es immer gewollt; ist es immer Kunst” abschloss.
Sie gab das Startsignal, schenkte der Seminargruppe noch ein ermutigendes Nicken und zwinkerte dann Elke direkt zu, ehe sie erneut laut, und ohne jede Spur von Hohn, auflachte.

Elke empfand für Charlotte und ihre verschraubte Sprache eine sofortige Zuneigung.

***

Schnell legte sich geschäftige Stille über den Raum; es wurde gezeichnet und gemalt, sogar mit eigens in Form gerissenen Buntpapier geklebt. Jeder schien genau zu wissen, was er wie und in welcher Form auszudrücken wünschte und Elke wurde das Gefühl nicht los, dass Charlotte Lessner‘s ausgiebige Eingangsrede, die ja an alle gerichtet war, nur für sie – der scheinbar einzigen Neuen im Kurs – gehalten worden war.
Als sich die Arbeitsstimmung irgendwann in ein lockeres Miteinander zu formen begann, nutzte Elke die Gelegenheit dem nachzugehen, weswegen sie eigentlich das Seminar hatte besuchen wollen.
Der erstbesten Dame in Hörweite verriet sie ihre Begeisterung für diesen Kurs und sprach zugleich Clara Wiltau, durch welche sie indirekt den Tipp zur Teilnahme erhalten habe, noch den tiefsten Dank aus.
Wie erhofft, löste schon die Erwähnung von Clara‘s Namen eine rege Unterhaltung unter den Gruppenmitgliedern aus. Da Elke in all der Lobhudelei nichts Neues und für ihre Reportage Brauchbares herauskristallisieren sah, schob sie schließlich blindlings ein „so eine Schande, solch ein Verlust für ihren Partner” ins allgemeine Gespräch hinein. Was erst entsetztes Schweigen und dann eine rege Diskussion über das dramatische Gefühlschaos um Clara Wiltau‘s Beziehung auslöste. Denn eine eigene Meinung über das Für und Wider, dem Selbstschuld und Chancenlos, von Ursache und Wirkung, über Hingabe und Aufgabe…  hatte natürlich jedermann. Nur eins war allen klar, Clara war endlich auf dem richtigen Lebensweg angelangt vor ihrem Unfall und der Mann war alles aber sicher nicht in tiefer Trauer des Verlustes wegen.

Elke, welche auch an diesem Tage wieder ohne Erfolg versucht hatte mit Anton Nauer in Kontakt zu treten, wurde sich unter all den Aussagen über ihn und sein offenbar grobes Verhalten, seine Kontrollsucht und Unnachgiebigkeit in der eigenen Beziehung, immer sicherer, dass dieser an Clara‘s Tod nicht unbeteiligt sein konnte. Schließlich schien sich Clara ihm entgegengestellt zu haben mit ihrem Gang in die Reha und dem darin gewachsenen Vorhaben ein neues Leben fern von ihm zu beginnen. Und ein Mensch, wie Anton Nauer hätte dies sicherlich niemals so einfach zulassen können! Als um sie herum die Flut von „so mutig” und „bewundernswert stark” allmählich abebbte, nahm diese in ihr hingegen weiter zu, türmte sich auf, drohte die Dämme des selbstgesetzten professionellen Abstandes zu brechen und sie zielstrebig in eine Handlungsrichtung zu drücken, die sie rückblickend sicher bereuen würde.

Kalte, dürre Finger legten sich mit erstaunlicher Kraft auf Elkes linke Schulter, drehten sie mit dem Rücken zur Gruppen und heraus dadurch aus den rasenden Gedankenstrudeln.

„Das ist so eine Sache mit der Wahrnehmung – sie hat die Tendenz sich zu wandeln, zu verzerren und Formen anzunehmen, derer man sich vorher nie bewusst war. Die Erinnerungen an und die Einstellung gegenüber einem bestimmten Faktum sind selten so fest und eindeutig, wie man im Allgemeinen gerne glaubt.

Ja, Clara Wiltau‘s Beziehung schien bedenklich, das Benehmen ihres Gefährten verwerflich, der Umstand, dass sie sich diesem ergab unverständlich und ihr Weg aus der Situation heraus bewundernswert… Nur… Clara selbst hat all die so offensichtlichen Probleme innerhalb ihrer Beziehung nie als solche betrachtet; sie hat mit keinem Wort davon gesprochen, dass sie unglücklich wäre. Für sie war Anton stets der Mittelpunkt des Lebens. In ihren Augen hatte er sich immer gekümmert, war stets für sie da und beschützte sie. Und ich bin mir fast sicher, würden Sie ihn fragen, wäre er sich keiner Schuld bewusst.
Clara war bis zuletzt der Meinung, sie nahm eine Reha in Anspruch, da sie mehr als erschöpft war und nicht recht wusste weshalb. Sie hatte letztlich aus ihrer Behandlung für sich mitgenommen, dass ihre Arbeit sie nicht auszufüllen vermochte und wünschte sich entsprechend einen neuen Weg. Sah aber natürlich, wie unbegeistert ihr Tony von alldem war und dachte, wenn sie ihm nur zeigen könnte, wie stark sie geworden ist, würde er sich freuen und sie schließlich unterstützen.
Aber wie?
Nimmt man Clara’s Schilderungen über ihre Beziehung an, dann hat er hat sie unterminiert, kontrolliert und klein gehalten mit jeder seiner Handlungen. Ob sie es so verstand oder nicht. Er sah sich offenbar gerechtfertigt in der Rolle, die sie ihm gegeben hatte irgendwann, in die er seiner Meinung nach gehörte. Und so füllte er diese eben aus. Ganz so, wie er es für angemessen hielt, wie er es selbst irgendwann gelernt hatte; wie es ihm beigebracht wurde vielleicht. Ist nie so einfach herunter zu brechen am Ende und soll auch nichts entschuldigen.
Aber Tony konnte Clara nur als die Person sehen, die er eben kannte, die er mit geformt hatte letztlich.
Doch glauben Sie mir Clara hat bis zuletzt gehofft, er sei mehr als ein jeder hier dachte… Dass er dazu wohl nie in der Lage gewesen wäre und Clara diesen Umstand nun nicht mehr am eigenen Leib erfahren muss, ist das einzig Gute an ihrem Unfall.”

Elke war nach Ohnmacht – vielleicht war sie schon mittendrin und würde kippen jeden Augenblick.

Charlotte Lessner’s ganz eigene Meinung zum Für und Wider, dem Selbstschuld und Chancenlos, von Ursache und Wirkung, über Hingabe und Aufgabe stand so sehr für sich, wie Elke nun erstarrt und allein in diesem Raum so voller Erregung. Denn nach ihrem ausgedehnten Monolog zur Wahrnehmung, der Meinungsbildung und der Notwendigkeit seine Perspektive offen zu halten, hatte Charlotte sich bereits von ihr abgewandt und drehte nun wieder ihre Runden durch den Kursraum. Warf auf jede einzelne Arbeit nicht nur einen Blick, nickte bestimmend, lächelte mild, gab Hinweise und Anregungen, stellte Fragen und bekam diese selbst auch gestellt. Sie ging ihren Aufgaben nach und stockte nicht einmal, als sich eine weitere Teilnehmerin zur Gruppeverspätet hinzu gesellte, sich eigenmächtig vor einer Staffelei positionierte und erst aufhörte mit einem Farbdurchtränkten Schwamm auf das Seidentuch wild einzutupfen, nachdem sie mit dem passenden Pinsel und einem langen Blick versehen worden war.

Dass es Heidrun Rühlich gewesen war, welche sich dem Seminar etwas säumig angeschlossen hatte, fiel Elke zwar auf, aber für sie nicht wirklich ins Gewicht. Schließlich war es kein Geheimnis, dass die „für Jedermann” Kurse auch von der Eatricher Nachbarschaft gerne in Anspruch genommen wurden. Heidrun wirkte müde irgendwie, trug tiefe Augenringe unter zu sanftem Makeup. Wahrscheinlich hatte diese sich auch durch den Stadtpark gekämpft, dessen Wege nach wie vor sicher recht holprig waren, obgleich der Sturm sich inzwischen gelegt hatte. Mit inzwischen mehr als müden Augen betrachtete Elke nun ihre eigenen langen, vormals hellen, jetzt verdreckten Hosen, die aufgekratzten Füße in einst weißen Sandalen, das verschwitzte schwarze T-Shirt und kam nicht umhin Heidrun im Stillen um deren Kleiderwahl zu beneiden. In fliederfarbenen dreiviertel Hosen, einer ärmellosen weißen Bluse mit Brosche in Orchideenform am linken Kragen und grauen Klocks an den Füßen war diese offensichtlich um vieles passender eingekleidet, als sie selbst. Ihr Blick blieb an der Brosche haften, verlor sich ein wenig und schloss sich so ihren Gedanken an.
Erst das laute „Ping” einer eingegangenen Textnachricht riss Elke aus der unschönen Reverie und das „Wir haben keine Milch mehr…” holte zuerst ein Lachen aus ihr heraus, dann eine Entschuldigung an die irritierte Runde und zu guter Letzt ihre Verabschiedung vom Kreativ-Kurs.

Das Bild eines in Kohle gezeichneten großen oval geformten Blattes ließ sie ohne Reue zurück.

***

Im Kopf fühlte sich Elke schon zurück in der Stadt, spürte die Stärke des nie mit Milch verdünnten Kaffees, schmeckte den Bissen Zuckerkuchen praktisch auf der Zunge. Tilli‘s Schnurrhaare kitzelten sie am blanken Bein, Ruby‘s Finger strichen ihr durchs Haar, über den Nacken, den Rücken hinab, kamen dort zur Ruhe; gaben Kraft.
Ein „Bitte, nun warten Sie doch… Ich muss mit Ihnen reden!”, zog Elke wieder ins Hier und Jetzt, auf den Boden der Tatsachen, auf das Gelände der Klinik.

Lilli, eine unscheinbare Frau Mitte Zwanzig, in unauffälligem Beige zerrte sie zu einer der äußeren Bänke, drehte und wendete sich dabei, als hätte sie Sorge belauscht zu werden. Elke erkannte sie sofort, erinnerte sich ihrer leisen Stimme, die meist mehr einem Flüstern gleich kam. Sie gehörte der Gesprächsrunde an, mit der sich Elke tags zuvor unterhalten hatte. Lilli zu fragen, was diese eigentlich wollte, verlor sich in deren gewisperten Schwall.
Sie müsse unbedingt verstehen, worum es in dem Konflikt zwischen Clara Wiltau und Hanna Drubert tatsächlich gegangen war. Nur dann würde sie auch begreifen können, „weshalb dieser für beide so nötige, so heilsame Konsequenzen gehabt hatte und dass Hanna doch niemals…“ Ihre eh schon kaum hörbare Stimme versank in einem noch unmerklicheren Schluchzen.
Elke tätschelte ihr verhalten am Arm und erkannte mit Schrecken, dass ihre Frage nach den Unstimmigkeiten zwischen Clara und Hanna nicht nur beim Doktor die Annahme ausgelöst hatte, sie werfe der einen ein Zutun am Tod der anderen vor. Sicher, Elke war an diesem Gedanken nicht ganz vorbei gekommen, aber dass dieser ihr so offensichtlich auf der Stirn geschrieben stand, ließ sie doch ein wenig um eine Zukunft im investigativen Journalismus bangen – ein Pokerface, ja das brauchte sie ganz dringend.
Lilli wimmerte weiterhin an ihrer Seite und Elke überhäufte diese bald mit Entschuldigungen, Versicherungen und Zustimmung. Wollte natürlich mehr wissen über alles, würde aller Information mit Respekt gegenüberstehen und nichts in die Öffentlichkeit tragen, was dort auch keinen Platz haben sollte.

„Hmpf… wenn es nach Hanna‘s Aussagen ginge, wäre ihr die allgemeine Meinung vollkommen gleich. Sie betrachtete kaum etwas in ihrem eigenen Leben als private Angelegenheit… nahm nie ein Blatt vor den Mund und sprach fast mit Jedem über Alles.”, legte sie auf einmal mit überraschend kräftiger Stimme los und übermannte Elke nun förmlich mit ihrer Rede:

„Ich glaube sie tat das als Reaktion auf die vielen Heimlichkeiten, innerhalb ihrer Familie. Bei ihnen sprach man nie direkt zueinander, nur hinterrücks und dann mit der Maßgabe, aber nichts dem anderen zu verraten. Man redete auch nicht über Gefühle, man warf sie sich vor!
Hanna dagegen war stets offen, immer ehrlich und hinterließ augenblicklich den Eindruck, man würde sie gut kennen und verstehen – dem war aber nicht so. Denn wirklich an sich heran ließ sie die wenigsten Menschen kommen. Und das war die Krux. Das einzige was sie privat, was sie geheim hielt, waren ihre eigenen Ängste, Wünsche, Hoffnungen, ihre reale Emotionen… Hanna war so voll von Gefühl, das sie aber nicht raus zulassen vermochte, da sie nicht wusste wie und Angst hatte davor, was folgen könnte, würde sie es wagen. Es brodelte ständig in ihr und drohte immerzu sie zu überwältigen.”

Bevor Elke sie unterbrechen konnte, um zu erfahren, wie denn Lilli all das wissen konnte, wenn doch „wahre” Gefühle das einzig Geheime von Hanna Drubert war, ratterte diese weiter:

„Sie war so ein herzensguter Mensch und barg so viel Verständnis für die Welt. Aber verachtete Heimlichtuerei, Getratsche, Gemauere. Sie missbilligte es, wenn Leute nicht einmal sich selbst gegenüber ehrlich sein konnten und nur immer nach Ausreden, nach Schuldigen suchten für die eigenen Verfehlungen. Hanna konnte solche Anwandlungen immer erkennen … und es regte sie auf!

Clara Wiltau war genau diese Art Mensch. Sie hielt die Augen so stark verschlossen gegenüber der eigenen Realität, dass diese, wie zugenäht erschienen für Hanna. Und so hielt sie ihr einen Spiegel vor die Nase wortwörtlich und im übertragenen Sinne. Clara begann danach zumindest ein wenig ihren Blick auf sich selbst und um sich herum zu erweitern und zeigte sich dankbar.
Hanna ihrerseits erkannte erst durch Clara, dass auch sie sich das eigene Leben schöner geredet hatte, als es war. Hm… noch nicht mal das. Doch sie dachte ernsthaft, sie könne mit allem leben, könne sogar wachsen an den Problemen, die nicht die eigenen waren und nie hätten sein sollen. Sie glaubte, wenn sie mitredet und nicht dagegen an, wenn sie nur diplomatisch sämtliche Positionen vertreten lernt, für und wider aller Streitigkeiten argumentieren kann, dann würde sie hilfreich sein und nicht bloß hilflos daneben stehen müssen.
Gott, dieses junge Ding war viel zu erwachsen für ihr Alter und doch noch so unerfahren am Ende… sie dachte sich selbst so stark, dass alle geglaubt hatte, sie wäre es… letztlich glaubte sie es selbst und zerbrach beinahe daran…”, Lilli räusperte sich laut, schnappte nach Atem, setzte mehrfach an, bevor sie endlich weitersprach:

„Aber wer rechnet schon mit sowas, wer kann sich angemessen vorbereiten auf einen Platz zwischen sämtlichen Stühlen? Hm?… Und wenn dann der Vater eines Tages seit Zehn Jahren eine Zweitfamilie hat… und wenn er dann deswegen geht, ist das natürlich ein Schock, ist es unbegreiflich, ist ja nichts womit man so rechnen wird, rechnen möchte… ist es ebenfalls weder das Ende der Welt, noch dieser Geschichte letzter Schluss. Denn dann kommt er wieder nach Tagen, einer Woche vielleicht, nach endlosem Flehen der Mutter, nach ihren Geschrei, ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung… Ja und nun spielen sie ein wenig heile Welt, verlangen von Hanna mitzuspielen, es nicht madig zu machen mit ihrem Geschrei, ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung… Nur dass er dann wieder geht, erneut zurückkommt und nochmal von vorn…”

Einatmen, Ausatmen, zählen bis Zehn.

„Hanna war so hilflos wütend, als sie an ihr zerrten, sie hineinzogen und aussaugten im täglichen Streitgespräch und sie dann doch alleine ließen, sie kaum bemerkten bei allem anderen, nicht mitbekamen, wie sie immer weiter abbaute, wie sie sich kleiner und kleiner machte, ganz so, als wolle sie verschwinden…
Ganz im Sinne der Erziehung, ganz verloren im eigenen Konflikt hat Hanna natürlich niemals über die Situation gesprochen. Denn es war halt so und was hätte es schon ändern können, vertraute sie sich jemanden an; das war ihre Meinung bis zuletzt… Auch ich habe all das erst erfahren, nachdem sie sich selbst in Clara erkannt hatte und ich zufällig an ihrer Seite stand, um ihr zur Seite zu stehen.”, ein Schnaufen, ein Hüsteln und weiter ging die Geschichte:

„Ihre Hausärztin zog dann eines Tages die Notbremse und schickte Hanna in die Reha…
Doch erst die Begegnung mit Clara ließ Hanna wirklich erkennen, dass sie schwach sein durfte, manchmal auch einfach sein musste und dass sie nicht allein war.”

Womit Lilli plötzlich verstummte.

Über Elkes trockene Lippen fiel auch kein weiterer Kommentar. Sie sah sich allerdings erneut der Frage, nach dem „Warum, wenn doch alles so gut schien?” gegenüber. Ihre Gesprächspartnerin, saß still und in Tränen aufgelöst neben ihr. Wahrscheinlich stellte sie sich dieselbe Frage.

***

Was Elke am Ende noch erfuhr, bevor sie schließlich den langen Gang nachhause antrat, war, dass Lilli kein echter Kurgast sondern Hanna‘s Freundin gewesen war, und somit die einzige Person, die sich nicht nur einzubilden brauchte, dass sie Hanna kenne und verstehe, sondern es auch tat. Die jungen Frauen kannten sich wohl über eine Laien-Theatergruppe und darum zwar noch nicht zu lange, aber dafür umso besser.
Jedenfalls bis zu den Ereignissen des vergangenen Mittwochs.

Elke bemerkte kaum, wie ihre müden, geschundenen Füße sie Schritt um langsamen Schritt durch den Park trugen, sie in den östlichen Teil Eatrich‘s brachten, über Ruby‘s Türschwelle und in ihre trostspendende Umarmung. Elke wollte nicht reden und wie so oft stellte ihr ihr liebster Mensch auf Erden keine Fragen.

Sie würden gemeinsam schweigen und es wäre genug.

***

Die Abendluft lag windstill und lauwarm über der Stadt.
Alle Straßen und Wege nun wieder gepflegt und geräumt, Umsturzgefährdete Bäume gefällt, Sträucher gerichtet, Rasen geharkt. Kein Hauch von stundenlanger Naturgewalt mehr zu erahnen, nur ein Geruch von feuchtem Wald kündigte Neues an, verkündete zeitnahen Regen.

Ruhe strömte auch aus allen blauflackernden Fensterscheiben; baldiger Schlaf würde folgen. Auch das schwarz-weiße Kätzchen befand sich bereits auf dem Heimweg – nur noch ein Blick durch das eine Fenster, nur noch mal ein kurzes Hineinsinnen nach möglichen Spuren stundenlanger Naturgewalt so ganz anderer Art.

Ein farbenfroher Strauß Tulpen, der sich seinerseits zur nächtlichen Pause anschickte, belegte die freie Sicht. Stand stolz auf dem Fenstersims und zeugte so auch hier von der Bereinigung aller Sturmschäden.

Ein leises Murmeln nur erreichte Tilli‘s gespitzte Ohren, verkündete einen Hauch von Zweisamkeit.

– VIII –

Ob sie nun wollte oder nicht – Irgendwann hatte Elke natürlich wieder das Bett zu verlassen, um sich der Welt zu stellen. Was ihr mehr als missfiel an diesem ach so neuen Tag, der ach so viel Neues, aber nicht notwendigerweise Glückliches in sich barg.
Entsprechend zögerte sie nicht nur das Aufstehen hinaus, solange es ihr gelang.

Erst gegen Mittag traute sie sich zu die Augen aufzuschlagen und diese offen zu halten.

Noch ein wenig später dann, trank sie den für sie übersüßten Kaffee und aß die eine trockene Scheibe Toast, von der sie sich hatte überzeugen lassen. Sie wusch sich dem Sand vom Vortag aus den Haaren, freute sich über das blassblaue Sommerkleid, was bereit lag. Danach putze Elke sämtliche Schuhe, kehrte den Hauseingang und wollte gerade mit der Gartenarbeit beginnen, die es nicht gab, als sie von Ruby stattdessen nicht brüsk, aber freundlich bestimmt ins Büro der Tagespresse geschickt wurde; an die dringend notwendige Aufarbeitung des vorherigen Tages.
Den langen Weg durch die Stadt lief Elke dann allerdings schon beinahe zügig. Was an einer spontan zurückgekehrten Arbeitsmoral liegen mochte oder aber am Dauernieselregen, der unnachgiebig auf sie ihr niederfiel.

Es ging bereits auf den späten Nachmittag zu, als Elke es somit endlich wagte ihre Aufzeichnungen und die Gedankenströme zu sortieren. Die hastig, nebenher bekritzelten Notizbuchseiten lagen nun vor ihr auf dem, vorher extra gründlich aufgeräumten, Schreibtisch und sahen beinahe so traurig aus, wie sie sich fühlte.
Kurz überlegte Elke die geplante Reportage über das Leben einer nie neugewonnenen Nachbarin um die Geschichte von Hanna Drubert zu erweitern, doch könnte man diese so unterschiedlichen Schicksale überhaupt gegenüber- oder nebeneinanderstellen?
Es gab hier schließlich keinen gerechten Vergleich miteinander, keinen Unterschied in der Tragik. Kein, der einen ging‘s schlechter als der anderen. Niemals ein, die eine war stärker, die andere war selbst schuld. Kein das Leben hat nun mal Kurven, es könnte schließlich auch schlimmer sein. Auf alle Fälle hat es das, könnte es, doch niemals sollte es so sein. Und zu keinem Zeitpunkt sollten die Dinge, die ja auch um so vieles tragischer sein könnten, unterminiert oder ignoriert werden, bis sie dann es endlich sind.

Was also konnte Elke mit all der neuen Information, all der Perspektiverweiterung am Ende wirklich tun?

***

Dicken Wolken bedeckten den Himmel und regneten sich unnachgiebig ab – über Stadt und Park und Wald und Flur. Dies war ein Glück für die durstigen Pflanzen und da es Sonntag war, kein Problem für Eatrich‘s Einwohnerschaft. Die sich nicht in der Verpflichtung sahen mehr als das Nötigste außerhalb überdachter Flächen zu tun. Sie saßen gemütlich bei Kaffee und Kuchen, bei Klatsch und bei Tratsch und verteilt über die diversen Kleinvereine der Stadt.

Aber wirklich auch Niemand schien sich in den eigenen vier Wänden aufzuhalten. Das stets neugierige Kätzchen drückte sich leicht enttäuscht vor dunklen Fenstern herum, bis schließlich das eine Fenster versteckt hinter weit geöffneten Tulpenköpfen erreichte hatte. Dort hielt sie angespannt inne, um wie immer mehr zu hören als zu sehen – um zu zuhören:

„Du wusstest, was ich bin und doch wolltest du unbedingt mit mir zusammen sein.”

„Ich weiß, ja, natürlich …”

„Ich habe dir nie etwas vorgemacht”

„… nein, du warst immer nur ehrlich.”

„Das hatte ich ja auch versprochen.”

„…ich weiß und ich danke dir…ich hatte einfach geglaubt … ich hatte halt gehofft…”

***

Staub legte sich Korn für Korn über Elkes Unterlagen, auf die Tastatur, in ihr halbleeres Wasserglas. Die Wanduhr gab den Takt der verfliegenden Sekunden, Minuten, Stunden, die sie nun schon ohne ein Wort zu schreiben, ohne einen Gedankengang zu beenden, ohne den leeren Blick vom Fenster und dem Friedhof dahinter zu nehmen.
Ein Brummen mehr spürend, als hörend, ließ Elke zum Mobiltelefon neben sich schauen. Der Anrufer war ihr nicht bekannt und so zögerte sie einen Augenblick zu lange, um das Gespräch entgegennehmen zu können. Offensichtlich war ihr in den tiefen Gedanken, die sich doch nur im Kreise zu drehen vermochten, so einiges entgangen. Denn Acht Anrufe dieser unbekannten Nummer hatten sie bereits erfolglos versucht zu erreichen während der zu langen Nachmittagsstunden, die inzwischen still und heimlich und vor ihren nichts-sehenden Augen zu Abendstunden geworden waren.
Ein Überlegen, wer sie denn hatte so unbedingt erreichen wollen, und ob Elke zurückrufen sollte oder nicht verlor an Bedeutung, als das Telefon in ihrer Hand erneut zu vibrieren begann.

„Ja, bitte?”, grüßte Elke etwas verhalten ins Fremde.

„Ja, danke.”, brummte es trocken zurück.

Und so begann sie, Elkes Unterhaltung mit einer fast Totgeglaubten.

Hanna Drubert‘s Stimme war etwas schleppend, rau und kratzig vom längeren Nichtgebrauch. Ein Vertagen des Gesprächs lehnte sie allerdings direkt ab, genau wie Elkes mitleidige Worte für sie. Nein, Hanna hielt nichts von leeren Floskeln oder den Dingen, die man halt so sagt. Alles was sie mit ihrem Anruf hatte bezwecken wollen, war ihrer Freundin Lilli die Gewissensbisse zu lindern, die diese sich zufügte, seit ihrer Unterhaltung mit Elke am Vortag. Was sie zudem auch erreichte mit ihrem Anruf war es Elke schließlich den Weg für deren Reportage zu weisen:

„Hmpf, der Witz ist, dass sie sich vor Vaterns Ankündigung nun zu seiner Beifamilie zu ziehen nie gestritten haben. Es gab kein Türenschmeißen, keine überlauten verbalen Angriffe oder Fäuste auf Tischen… Ich erinnere nur diese Stille, die so viel mehr auszusagen schien – im Nachhinein. Am Abend saß man gemeinsam bei Tisch, aß, trank, erzählte vom Tagesgeschehen, besprach Geplantes – immer kurz und knapp, immer unter Zeitdruck irgendwie… Es gab zuviel zu tun, von dem ich nichts verstehen würde; wie sie immer sagten.
Nein, da war nie Streit. Es war ein Nebeneinanderher-leben, ein sich so gut kennen, dass man keine Erwartungen mehr hatte in sich selbst und den anderen… auch von mir wurde im Grunde nichts erwartet, nur stets das Beste verlangt. Denn so gehörte es sich… was sollen sonst die anderen denken?”, lachte Hanna bitter:

„Ja und dann ging er weg, kam zurück, ging wieder weg und nun gab es zumindest endlich die Auseinandersetzung, das Streitgespräch, was es vorher nie gegeben hatte. Und so ging es dann nur noch im Kreis herum mit ‚Du musst das verstehen.‘ … ‚Ich bin doch trotzallem immer für dich.‘ … ‚Ich kann hier nicht bleiben.‘ … ‚Verlass mich nicht!‘…”

Ein Schweigen schlich sich plötzlich in die Leitung und Elke wartete geduldig, aber besorgt auf mehr: Denn mehr würde noch kommen; es kam immer:

„Er ist natürlich wieder weg mittlerweile… und sie hat nu versucht mir die dafür Schuld zu geben. Er übrigens auch! Pff… hat ne Postkarte geschickt aus Madagaskar… Schließlich sei ich ja auch einfach auf Urlaub ohne Rücksicht auf meine Familie, ohne jedweden Gedanken daran, was denn nun alle anderen denken müssen… Sie meinte dann noch, wenn ich nur erst wieder zurück bin, dann wird alles, wie früher… Ich kam darüber nicht hinweg.“

Und wieder Schweigen. Ein hörbares Schlucken. Ein tiefer Atemzug. Dann zwei.

„Na klar, kann ich nicht verlangen, dass sie mich verstehen werden. Dass sie nicht nur sich und ihr Unglück sehen, sondern auch merken, dass alles, was sie tun – auch wenn es nachvollziehbare Gründe hat – – auch immer Konsequenzen nach sich zieht. Denn ihre Gründe, ihr Unglück, ihre Entscheidungen werden dann meine werden letztendlich… Denn all das ruht fast immer auf Generationen von Ballast. Ist der Zeit geschuldet ist, den Umständen und dem: ‚Bist du erwachsen, wirst du es begreifen‘. Und es hat immer Folgen, die sich nicht mit einem ‚Du hast ja recht, aber…‘ mal eben so ausbügeln lassen. So ging es ihnen und denen davor und nun auch mir.
Denn letztlich sind wir alle von unserer Umwelt, von unseren Erfahrungen geprägt und tragen diese weiter, ob mit Absicht oder ohne… egal, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht… Man ist nie allein. Auch wenn man sich das noch so wünscht!“, erklärte Hanna mit zu ruhiger Stimme für ein so junges Ding. Elke war beeindruckt und entsetzt zugleich. Aber nicht überrascht von dem was folgte:

„Alles wie früher… tse… nein, ich möchte so gern alles eben nicht wie früher, sondern einfach nur gut! Ein Traum, den ich zu verfolgen gedenke. Ich hatte Pläne und nun werde ich auch den Biss haben diese umzusetzen. Lernen tatsächlich an den Umständen, die eben sind, wie sie sind zu wachsen und einen gesunden Weg zu finden mit ihnen umzugehen!”

Wieder ein Schweigen. Doch es war leicht.

Und die Fragen über Hanna’s Kuraufenthalt und das Verhältnis zu Clara Wiltau fielen so auch Elke einfacher. Das Clara ihr mit dem Verfolgen der eigenen Wünsche Hoffnung gegeben und Mut gemacht hat, dass bestätigte Hanna ohne einen Moment des Zögerns. Und das war es auch, was Elke am Ende in ihre Reportage nehmen würde. Denn auf die eine oder andere Weise… Ob nun mit ihrer ganz eigenen Stärken oder eben der Schwächen, die niemanden wirklich fremd waren letztendlich, hatten sich diese beiden Frauenschicksale berührt, um zu erblühen.

Hanna würde sich auch noch persönlich bei vielen, lieben Menschen der Kurklinik bedanken gehen, da sie natürlich auch denen so viel und noch mehr zu verdanken hatte. Als Elke – nur zum Spaß eigentlich – wissen wollte, ob vielleicht sogar mit Doktor Hinterseer eine Vaterfigur für sie unter dem Klinikpersonal schlummern würde. Brach Hanna zwar in Lachen aus, doch klang dieses zu laut, zu schräg und überzogen in Elkes Ohren, um ehrlich sein zu können.

„Der Hinterseer ein Vorbild als guter Ehemann und Vater?! Wissen Sie denn nicht, dass dem seine Frau vor bald über 25 Jahren spurlos verschwunden ist???”

Fortsetzung folgt

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Auf Umwegen_Kapitel 1

Auf Umwegen

Prolog

Es sollte zwar kein milder Tag werden, doch mit der fast stehenden, schwülen Luft hatte auch niemand im Ort gerechnet.
Seit Tagen war es nun drückend heiß gewesen, obgleich Regen angekündigt war. Doch diese windfreie Schwere, dieser fast schmeckbare Schleier, dieser feuchte Film auf allen Oberflächen zeugte nun endlich von einem nahenden Wetterumschwung.
Natürlich waren die Leute des Dorfes glücklich darüber, ja ersehnten den so dringend notwendigen Regen. Wussten um die betrüblich geneigten Köpfe der hochgeschätzten Blumen, um die fast welke Ernte, um die durstigen Tiere, die verbrannte Haut. Und doch heute… Heute erschien der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für dieses so nötige Gewitter; heute fand doch die große Hochzeit des Bürgermeisters statt. Eine Feierlichkeit für Sonnenschein und Vogelgezwitscher nicht für Unbestimmtheit und Unwetter!
Seit Monaten geplant und keine einfache Verbindung zweier Liebender, sondern ein spektakuläres Stadtfest sollte es werden. Nicht nur die Nachbarn, nein die Menschen des gesamten Landkreises waren eingeladen. Jedermann im Sonntagsanzug, in geputzter Kleidung, im besten Abendkleid, im feinsten Zwirn und mit dem breitesten Grinsen im Gesicht. Das Glockenspiel ertönte, kündigte den Auftritt des Paares an und so auch den Beginn der Feierlichkeiten. Voller Spannung und Anspannung sammelten sich die Gäste nun vor den Toren des Rathauses. Jedoch mit dem Blick nicht so sehr auf das Brautpaar als vielmehr gen Himmel gerichtet, welcher sich mit einem Male bedrohlich abgedunkelt hatte.
Donner durchriss die Stille des Tages und das abwartende Schweigen der Leute. Gefolgt vom kurzen Aufschrei der gerade aus dem Schutz des Hauses getretenen Braut begann wie auf Knopfdruck der Regen. Das Wasser stürzte in dicken Tropfen auf die frisch Vermählte hernieder, durchweichte das so sorgsam ausgesuchte Kleid in wenigen Augenblicken und ergoss sich in Fluten über die Stadt, deren Bewohner und Besucher. Aufgescheuchten Hühnern gleich drängten die Hochzeitsgäste in alle Richtungen und suchten verzweifelt nach Schutz. Sie drückten sich ins freistehende Rathaus bis kein Platz mehr blieb, kauerten unter Bänken, umklammerten die umstehenden großen Buchen und rannten zum naheliegenden Parkplatz.

Ein wahres Spektakel also, ein Zirkus, ein bunter Haufen, ein…

Dem jungen Mädchen, welches auf der Hohe saß und das Schauspiel fasziniert beobachtete, gingen die Vergleiche aus. Ihr war es nur zu Recht, dass, wenn schon nicht die Hochzeit selbst, dann doch zumindest das lächerliche Fest danach buchstäblich ins Wasser gefallen war.
Wie konnte ihr Vater nur wieder heiraten? So kurz nachdem…? Wie konnte ihre Mutter dem Theater beiwohnen? Wie nur konnte es beiden so egal sein, dass sie, dass ihre einzige Tochter nicht dabei war? Wie…?

Ein Aufschlag im Hausflur ließ Luise aufschrecken, ließ sie ihre liebste Spielfigur an sich drücken. Das Geschrei im Haus kam näher; Vater und Mutter mussten wohl inzwischen direkt vor ihrer Zimmertür stehen. Wieder ging irgendetwas zu Bruch, erneut polterte etwas anderes die Stufen herunter. Luises schwarze Lockenpracht schüttelt sich mit ihr, als sie mehr und mehr ins Zittern geriet und versuchte sich immer kleiner zu machen. Die Spielfiguren – so sorgsam aufgebaut – lagen längst verstreut um das kleine Mädchen herum und wurden mit jedem lauten Wort vom Hausflur, mit jedem neuen Knall immer feuchter durch dessen Tränen.
Plötzlich das Zuschlagen der Haustür, dann Stille.
Die Tür zu Luises Kinderzimmer öffnete sich langsam und vorsichtig. Beinahe lautlos, wäre da das Quietschen der Klinke nicht gewesen. Eine Hand legte sich sanft auf ihren Rücken, eine andere strich ihr durchs Haar. Minuten vergingen ohne ein Wort, gefüllt nur mit den wimmernden Atemzügen des Kindes.

„Vergiss nicht die Spielsachen wegzuräumen ehe du zu Bett gehst.“, mahnte ihre Mutter schließlich mit leiser Stimme bevor sie aufstand und Luise allein im Zimmer zurückließ. Diese presste die Lippen zusammen und unterdrückte das Schluchzen, denn sie lauschte nun aufmerksam in den Hausflur hinein. Hörte leiser werdende Schritte, gefolgt von einem kurzen Aufschrei, danach ein gezischter Fluch und schließlich erneut das Zuschlagen der Eingangstür.
Im Haus herrschte nun Ruhe, auch das Gewitter über ihrer Spielstadt war vorübergezogen; der Empfang könnte endlich weitergehen…

Die liebste Spielfigur noch immer umklammert, begann Luise langsam und mit Bedacht das Fest aufzulösen, die Stadt abzureißen und mit dem Ärmel ihres tiefblauen Kleides ihr Gesicht abzutrocknen. Ein einzelner Tropfen hing ihr für einen Moment noch am spitzen Kinn bevor dieser auf das kleine Mädchen in ihren Händen tropfte und deren Kleid benetzte – regengleich.

Kapitel 1

-I-

Ein Grollen zerriss die Stille des Waldes und rollte für einige Augenblicke im finsteren Himmel umher. Die wenige Tiere, die sich nach Abklingen des Gewitters schon aus ihren nächtlichen Ruhestätten hervorgewagt hatten, zogen jetzt verunsichert ihre Nase zurück oder schoben den Kopf ins Gefieder und warteten von Neuem auf die ersten Sonnenstrahlen und das Aufreißen der dichten Wolkendecke.

Auch die kleine schwarz-weiße Katze kauerte mit gesträubtem Fell und angelegten Ohren im Geäst; der Blick gebannt, die Muskeln angespannt, die Krallen im Waldboden versenkt. Der plötzliche Starkregen hatte das Kätzchen ebenso überraschend getroffen, wie der Anblick des einzigen Zweibeiners, welcher sich nun in ihr Blickfeld geschoben hatte.
Selbstverständlich erkannte sie die junge Frau sofort, so wie sie jeden Einwohner des kleinen Dörfchens kannte. Eatrich war weder groß noch unüberschaubar. Zudem rühmte sich der Ort mit einem engen Gemeinschaftskreis und damit, dass es sich diesem am Besten und Sichersten lebt.
Somit waren neue Nachbarn zwar immer willkommen geheißen, aber nicht notwendiger wirklich erwünscht. Nein, erst mal hieß es für Zugezogene sich zu beweisen, zu zeigen, dass sie ins Stadtgefüge passten, dass sie sich einbrachten.
Die junge Frau im dunkelblauen Samtmantel, welche mittlerweile am Wegesrand hockte, war so ein neuer Nachbar. Sie war vor gut sechs Monaten gemeinsam mit der Eröffnung der neuen Kurklinik, dem Haus Instenburg, erstmals im Stadtwald aufgetaucht und im Gegensatz zu all den anderen Kurgästen und Patienten in Eatrich verblieben. Nach anfänglicher Verunsicherung war Charlotte Lessner letztlich allerdings recht schnell im Kreise der Nachbarschaft akzeptiert wurden, obgleich einige Dorfbewohner sie nach wie vor sehr aufmerksam beäugten. Es schickte sich aber Charlotte, als Tochter des hochangesehenen Klinikleiters Dr. Hinterseer ausgesprochen höflich und mit gebührendem Respekt zu behandeln und auch Nachsehen zu haben, wenn diese sich nicht immer in alle Stadtgepflogenheiten gleich einzufügen wusste.

Ja, das kleine Kätzchen kannte Charlotte und deren Gewohnheiten gut und so war sie doch ein wenig verwundert auf diese zu so früher Stunde und bei einem solchen Wetter im Stadtwald zu treffen.  Denn normalerweise kreuzten sich ihre Wege erst sobald das Kätzchen für ihre Morgenrunde Eatrich selbst hinter sich ließ, um  das Stadtwald-Dickicht im Norden zu Durchstreifen. Sie gönnte sich danach stets einen kurzen Moment Ruhe auf dem Gelände der Klinik, welches sich inmitten des Waldes befand. Auch der Stadtpark, der die Brücke zwischen Eatrich und der Kurklinik darstellte, wurde vom Wald umschlossen. Denn dieser galt seit einigen Jahren als Naturschutzgebiet und entsprechend nicht mehr bewirtschaftet, was für die kleine Katze und alle anderen Tiere natürlich interessanter war, doch für die Einwohner und Kurgäste eher ein Dorn im Auge beziehungsweise ein Stein im Schuh. Obgleich der eine offizielle Wanderweg durch den Wald Raum für Tourismus bot, bevorzugten diese gepflegtere Wege und Blumenrabatten. Also hatte die Gemeinde den Stadtpark erhalten. Letztlich zog es auch die Katze meist über die kultivierten Wege des Stadtparks gen Süden zurück und schließlich ostwärts wieder in die Stadt. Ja, die Stadt, die doch mehr ein Dorf war, aber in den Augen der Bewohner im Grunde fast schon eine Metropole, da der Mittelpunkt des Lebens eines Jedem im Orte; inklusive der kleinen schwarz-weißen Katze. Welche nun, wenn auch noch ein wenig betrübt um der sicherlich verlorenen Streicheleinheiten, derer sie sonst von Charlottes sanften, wenn auch stets kalten Händen tagtäglich zuteilwurde, blickte nun gespannt auf die Geschehnisse vor sich.

Die junge Frau schien tief in Gedanken versunken, denn die dicken Regentropfen, die vom Wind getragen aus dem Blätterdach rannen, nahm sie scheinbar nicht wahr. Obgleich diese Charlottes Mantel durchdrangen, sich in der hochgeklappten Krempe des roten Hutes sammelten und sich nun vereinzelten einen Weg über ihr Gesicht suchten. Die hohe Stirn herab krochen, längs der Augen zur spitzen Nasen flossen, um dann an dieser kurz zu verweilen, ehe sie zum Erdboden fielen. Unberührt davon blickte Charlotte starr auf den aufgeweichten Waldboden vor sich, als würde sie nach etwas suchen oder auf etwas warten. Mit einem Mal erlosch ihre Erstarrung, sie griff vor sich und strich sanft über die nasse Erde. Dort ließ sie ihre Finger kurz ruhen, bevor sie sich letztendlich erhob und nun wie unter Zeitnot durch den Wald in Richtung Kurklinik lief.

Die schwarz-weiß befellte Katze, welche nahe genug, jedoch gut versteckt, gesessen hatte, um dem gesamten Schauspiel unbemerkt beizuwohnen, machte sich ebenfalls erneut auf den Weg, lief aber in die Gegenrichtung und somit zurück in die Ortschaft und dem Abschluss ihrer frühzeitlichen Tagesroutine entgegen.

***

Die Luft hing verständlicherweise auch über Eatrich selbst noch immer regenschwer und verdunkelte so nicht nur die Morgenstunden, sondern auch die morgendliche Stimmung.
Die Dorfbewohner, welche sich selbst dafür priesen in Gänze nicht lediglich Frühaufsteher zu sein, sondern tüchtig und gutgelaunt zu jeder erdenklichen Zeit, rafften sich an diesem Sommertag nur schwerfällig auf, drehten sich in Teilen nochmal um, überlegten sogar den Morgen ganz sich selbst zu überlassen und nicht in aller Frühe zu ihren Ständen, Büros und Feldern aufzubrechen. Doch nur unmerklichen länger als sonst dauerte es bis die ersten Jalousien hochgerollt, die ersten Fensterläden aufgestoßen wurden. Die kleine Katze schmunzelte in sich hinein – ganz so wie es nur feline können. Denn ihr war, als hörte sie das allgemeine Aufstöhnen der gesamten Nachbarschaft, welche sich schließlich, aber nur unter nicht ganz so stillem Protest dem heutigen Tagesbeginn ergab.
Jeden Augenblick würde das geschäftige Treiben beginnen und das Kätzchen, welches es sich mittlerweile auf einer der Marktplatzbänke gemütlich gemacht hatte, um sich trocken zu putzen wohl fürs Erste vertreiben. Dass nämlich an diesem Tage die richtige Grundstimmung herrschte, die ihr sonst ein paar Leckereien der Marktbetreiber einbrachte, stand noch in Frage. Denn auch ihr Gemüt war von Schwere erfüllt gleich ihrem noch immer feuchten Felles.

Wie jeden Tag hatte sie bereits ihre Großrunde gedreht ehe sie zum Marktplatz und damit zum Zentrum Eatrichs gelangt war. Denn bevor das Kätzchen sich gelegentliche Zwischenmahlzeiten gepaart mit dem Kraulen unterm Kinn gönnen konnte, musste sichergestellt sein, dass es in ihrem Revier keine ungebetenen Gäste gab und dass dieses nach wie vor ausreichend markiert war.
Dafür verließ diese ihre Nachtstätte üblicherweise in südwestlicher Richtung und umrundete den Marktplatz, dem städtischen Kreisverkehr folgend. Sie lief vorbei an Einfamilienhäusern, kleinen Geschäften und großen Vereinsgebäuden, denn für die Jüngeren gab es Spiel- und Sportlätze, so mussten die Älteren auch ihre Räumlichkeiten haben – im Südwesten ein Klub für die Herren und im Südosten einer für die Damen des Ortes. Sie verweilte auch stets für einige Augenblicke nahe dem Stadttor am südlichsten Punkt des Ortes, den Willkommensgruß desselbigen dabei stets im Nacken: „Willkommen in Eatrich, hier bin ich Mensch, hier fühl ich mich wohl!“. Nur damit sie ihren Blick entlang der Bundesstraße schweifen lassen konnte. Schließlich zog es die Katze dann immer über den Nordwesten Eatrichs, durch noch mehr Wohnsiedlungen, rund ums Polizeirevier und der Feuerwache und letztlich entlang des Friedhofs in den Stadtwald.
In welchem sie heute zu ihrem Unmut vom kurzlebigen, aber nicht minder heftigen Gewitter überrascht wurden war.
Der kleinen Katze war das vorherrschende Kreisverkehr- und Einbahnstraßensystem, für welches Eatrich auch über Landkreisgrenzen hinaus berühmt berüchtigt war, nur allzu recht. Die Verkehrs- und Laufwege der Dorfbewohner und deren Vierbeiner waren innerhalb des Ortes starr gesetzt, und so bestand für das Kätzchen nie die Problematik, dass irgendwer oder irgendwas sich frei in ihrem Wirkungskreis bewegte. Es gab lediglich diese eine Zufahrtsstraße am Südpunkt und nur den einen wenig frequentierten Bahnhof im Nordosten, welcher mittlerweile beinahe ausschließlich von den Kurgästen genutzt wurde und der am äußersten Rand des Stadtwaldes lag. Alles war also in sich geschlossen, stark strukturiert und konzentrisch angelegt. Dieser Aufbau und dessen gewollte Abgeschlossenheit entsprachen sowohl der ökonomischen Unabhängigkeit der Stadtwirtschaft als auch dem Zusammengehörigkeitsbedürfnis der Einwohnerschaft.
Veränderung im Stadtbild wie in der Gemeinschaftsstruktur wurden nur schwer ertragen und bedurften stets einer Nachbarschaftsentscheidung.

Wie befürchtet war die allgemeine Morgenstimmung am Marktplatz tatsächlich gedämpft und die kleine schwarz-weiß befellte Katze trabte mit hängendem Schwanz zu Frauchens Haustür zurück.

Die Morgen-Ausgabe der Tagespresse lag bereits aus und bot dem geneigten Leser eine Auswahl an regionalen und als weilen überregionalen Nachrichten, örtlichen Anzeigen, Erfahrungsberichten und geplanten Veranstaltungen, Zusammenfassungen der Stadtversammlungen, Geburtstagsgrüße und Partezettel, zuweilen Reportagen und dem Kätzchen vor allem eines ihrer bevorzugten Sitzplätze.

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„das Unglück der Clara W.”

Ein leichter Windzug durchfuhr das dichte Buchen-Blätterdach, mehr hörbar als spürbar. Denn selbst im Stadtwald war inzwischen die sommerliche Hitze dieser Julitage angekommen und drum hing die Luft schwer und trocken im Geäst. Sicherlich wäre es kühler, ginge man tiefer in den Wald hinein. Würde man sich trauen, sich durch dessen tageszeitunabhängige Dunkelheit schlagen und nicht, wie es nun mal verlangt wird, dem offiziellen Wanderweg folgen. Ein Waldweg breit genug, um diesen bequem auch in Gesellschaft zu gehen. Eine Wegstrecke gesäumt von kleinen Sträuchern, Grasbüscheln, Kräutern und verschiedensten Blumen, die dankbar für das Sonnenlicht farbenprächtig und artenreich zur Geltung kamen. Die miteinander, nebeneinander, übereinander um die sattesten Lichtquellen, den gehaltvollsten Boden konkurrierten. Ein Weg so voller Leben, aber getaucht in solch eine Wärme, dass sie einen jeden Wanderer neidvoll auf die Tiefe, die Kühle, das Dunkel abseits der genehmigten Strecke blicken ließ und so manch Bereitwilligen anlockte, ja zu sich zu ziehen vermochte.

Nicht aber Clara.

Nach einem letzten träumerischen Blick ins Innere des Waldes setze diese ihren Ausflug nach Eatrich fort; umgeben von Grün, von Vogelgezwitscher, von Aroma-geschwängerter Luft.
Natürlich war es ein unnötiger Umweg gewesen einen Bogen aus dem Stadtpark heraus und durch den allesumgebenden Buchenwald zu schlagen. Doch die Neugier, die beinahe unberührte Schönheit dieses so urtümlichen Waldes, dieses Naturschutzgebietes, welche doch bedauerlicherweise in heutiger Zeit allzu selten waren, mit eigenen Augen, mit offenen Sinnen zu erleben, hatte Clara den doch recht abenteuerlichen Abstecher wagen lassen.
Nie lag es sonst in ihrer Natur solchen spontanen Einfälle nachzugeben, sich von ihnen ablenken zu lassen; ihr ganzes Auftreten brachte dies zu Geltung. Und ihre Kleidung somit Abbild der Verlässlichkeit, der Beständigkeit, der Unscheinbarkeit. So schnell zu übersehen, so herausstechend in diesem satten Grün des Dickichts. Die weiße Bluse, der über-knielange, beige Rock, die farblich passenden Sandalen.
Clara war mehr als unpassend für diesen Spaziergang gekleidet und das wusste sie. Schließlich wollte sie ja eigentlich den bestmöglichen Eindruck beim Eatricher Bürgermeister hinterlassen und doch, und doch…

Die neue Anstellung in der Kindertagesstätte, die neue Wohnung in der Nord-West-Siedlung des Ortes, die vielen neuen Möglichkeiten, die sicher auf sie warten würden, erweckten in ihr den Wunsch ausgefallener, lockerer zu werden. So richtete Clara sich in ihrer ganzen Durchschnittshöhe auf und begann sich nun doch etwas herzurichten:
Den Schweiß von ihrer glatten Stirn wischend, der ihr zartes Makeup in Gefahr brachte und dicken Tropfen auf der großrahmigen Brille hinterließ, eine lose Strähne des langen, aschblonden Haars zurück in den Dutt steckend, die schmale Aktentasche aus braunem Leder erneut geschultert, ein betroffenes in Augenschein nehmen der nun doch von Erde verschmutzten Schuhe und Clara ging innerlich erstarkt voran.
Sie wollte sich so bald wie möglich neu einkleiden, ganz im Sinne ihres Neuanfanges und nach Maßgabe ihres nagelneuen Bandelia-Halstuchs, welches innen tiefrot und außen mit einem Muster aus Sonnenblumen und Efeuranken bedruckt war. Sie würde zufrieden sein mit ihrem Leben, würde Fröhlichkeit nicht lediglich symbolisch auf der Kleidung nach außen tragen, sondern tief in ihrem Herzen verankern.

Es war eine Genugtuung endlich angekommen zu sein.
Es war eine Freude in dieser Gemeinschaft ein Zuhause zu finden.
Es war ein Glück, dass sie auf die richtigen Leute getroffen war.

Es war ein Unglück, welches Clara W. (34.) an diesem Juli – Tage aus dem Leben gerissen hatte.

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Elke Unmut kam nicht umhin den Artikel wiederholt zu lesen, zu sehr war sie mit Stolz erfüllt endlich ein volles Mitglied der Tagespresse zu sein, endlich die Gelegenheit zu bekommen nicht nur das Lektorat auszufüllen, sondern eine Journalistin zu sein und echte Beiträge zu schreiben. Berichte über wirklich Wichtiges und nicht bloß solch brühwarmes Gewäsch zu verbreiten, welches normalerweise die Eatricher Tageszeitung füllte.

Ein Leichenfund kam ihr da gerade entgegen…

Sich bewusst, dass sie ihre – rein professionelle – Begeisterung zügeln musste bevor sie ihrer liebsten Freundin unter die Nase trat, schulte Elke ihre Miene und pflasterte ihr rundliches Gesicht mit einem milden Lächeln. Kurz tätschelte sie noch Tilli‘s Köpfchen, denn schließlich hatte die kleine schwarz-weiße Katze an diesem Tage die Zeitung nicht mit Kratzspuren verseht und das gehörte belohnt, ehe sie schließlich, wie beinahe täglich, das Blatt ins Hausinnere brachte.

***

Ohne dass sie auf Ruby getroffen war, welche sicherlich eine helfende Hand oder zwei bei der Frühspeisung der Bewohner der Residenz zum Frieden, dem örtlichen Altersruhesitz, aushalf, machte sich Elke, doch ein wenig enttäuscht nun nicht mit ihrem großen Einstieg ins Presseleben glänzen zu können, zügig auf den Weg zum Stadtwald. Sie wollte dringend weitere Impressionen vom Fundort gewinnen, wollte ein Gefühl für die Stimmung entwickeln und ihren Beitrag über das plötzliche Ende eines noch recht jungen Lebens auf eine ganze Reportage auswalzen; natürlich mit dem nötigen Respekt. Elke wollte nämlich nicht riskieren, dass Ruby ihr später vorwerfen könnte, sie mache all das nur aus Eigennutz.
Dachte sie an Ruberta Löhn, welche ein Jeder nur als Ruby kannte, entsann Elke sich immer auch gleichzeitig ihrer inzwischen verstorbenen Mutter, welche bis zuletzt in der Residenz gelebt hatte und durch deren Kontakte Elke vor gut sechs Monaten mit Ruby bekannt gemacht wurde. Sechs Monate, eigentlich fast schon unheimlich, wie sehr Elke inzwischen an ihr hing. Und wie sie geschafft hatte, dass Ruby sie mehr als nur duldete, war für Elke, die nicht gerade dafür bekannt war besonders einfach im Umgang zu sein, bis heute ein Rätsel. Wenn sie ehrlich war, rechnete sie beinahe täglich damit, dass Ruby, dieses absolute Seelchen von Mensch, wieder zu Verstand kommen würde und den Fehler sich Elke zur Freundin zu machen, erkannte. Doch ganz gleich, was noch kam, sie würde ihr auf ewig zu Dank verpflichtet sein, sich nicht nur ihrer, nicht minder schwierigen Mutter angenommen zu haben, sondern direkt auch Elke in ihr Herz zu schließen und dieser seit dem Tod der Mutter mehr als nur den so bitter nötigen Beistand zu leisten. Ja, dieses zierliche Ding, welches stets in übergroßer, knallbunter Kleidung versank und dass sich hinter Elke verstecken konnte, würde ihre Persönlichkeit sie nicht geradezu in den Himmel heben, war durch und durch eine gute Seele. Immer mit einem ehrlichen, einem weisen Lächeln auf den dünnen Lippen und neugierigen, wachen Augen, die eines Ozeans gleich ständig die Farbe zu wechseln schienen und in denen Elke zuweilen nach Abtauchen zu Mute war.

Ruby lebte mittlerweile zwar nicht mehr auf dem Gelände der Residenz, aber nur unweit davon entfernt in einem extra für sie bereitgestellten kleinen Häuschen. Denn obgleich der Tod ihres Mannes, mit welchem Ruby bis zu dessen, viel zu frühen, Ableben in der Residenz gewohnt hatte nun bald ein Jahr her sein dürfte, unterstützte sie das Personal weiterhin jeden Tag, leistete den älteres Herrschaften Gesellschaft und verbreitete stets eine ruhige, eine respektvolle, ja, eine liebevolle Stimmung. Elke beneidete sie manchmal ein wenig, dass sie Tag ein Tag aus zu solch einem Lebensmut fähig zu sein schien und so viel Energie für sich und alle anderen bereitzustellen. Jedoch mehr noch war Elke dankbar. Denn in Ruby hatte sie endlich den lang ersehnten Sozialkontakt in dieser so eingeigelten Gemeinschaft gefunden. Nicht nur das sie beide mit ihren Anfang 40 fast gleichaltrig waren und somit trotzdem fast noch zur Stadtjugend gehörten, zumindest laut den Damen des örtlichen Frauenvereines. Sie kamen beide von Außerhalb, obgleich Elke eigentlich bloß eine Rückkehrerin war, und hatten deshalb entsprechende Startschwierigkeiten mit den lieben Nachbarn gehabt. Nein, sie teilten auch gemeinsame Interessen und machten sich für einander stark.
Nur aufgrund Ruby‘s guter Zurede hatte Elke es überhaupt erst gewagt die alte Anstellung als Sekretärin auf der Polizeiwache gegen die Vollzeitanstellung bei der Zeitung einzutauschen. Und nur durch sie hatte Elke die Idee zu dem etwas anderen Partezettel zum plötzlichen Tod von Clara Wiltau erhalten und den Mut in ihrem ersten offiziellen Artikel mehr als nur eine einfache Todesanzeige zu schreiben.

Ja, Clara‘s Geschichte versprach mehr.
Mehr als dass Ruby bedrückt gewesen war, da sie Clara, nun nicht kennenlernen würde, nicht mehr konnte.
Nein, Elke wunderte sich vielmehr darüber, dass die Verantwortlichen des Rathauses Clara‘s recht spontanen Zuzug nach Eatrich scheinbar ohne Rückfragen abgenickt hatten. Dass Clara, von der praktisch nichts bekannt war, offenbar schon fest im Stadtbetrieb eingeplant gewesen war und dass sie in wenigen Tagen auf der Stadtversammlung feierlich begrüßt werden sollte.
Ja, Elke war aus diesem Grunde hellhörig geworden. Denn es war mehr als nur ungewöhnlich den Zuzug neuer Stadtbewohner so zügig und ohne vorherige Abstimmung des Gemeinderates zu bewilligen, ganz zu schweigen davon ihnen sofort eine Anstellung zu geben und einen Wohnbereich zu schaffen; es war bisher ungesehen. Nicht, dass Elke ihr das nicht gegönnt hätte, nur wusste sie, dass all diese Formalitäten normalerweise mehr Wartezeit in Anspruch nahmen. Ganz besonders da Clara keine einfache Frau war, die es ganz zufällig nach Eatrich gezogen hatte… Clara Wiltau war ein ehemaliger Kurgast und am Tag ihres Todes direkt aus dem Haus Instenburg gekommen, um einen Neubeginn in dieser ach so dörflichen Stadt zu wagen.
Bestimmt war sie eine nette Frau gewesen. Sicherlich hätte sie wunderbar in Eatrich‘s feine Nachbarschaft gepasst. Doch ohne jeden Zweifel, stachen die genauen Umstände unter denen sie so schnell und mit so offenen Armen in diese sonst so verschlossene Gemeinschaft integriert werden sollte, heraus und erschienen eher unklar; zumindest für Elkes ganz urteilsfreie Meinung.
Deshalb war es für Elke mehr als Wert all diesem nachzugehen.

Und so ergab es sich, dass Elke, unter dem vom Gewitter noch stark verhangenen Himmel, nun Pläne für ihre erste große Reportage entwickelte, während sie leichtfüßig im Geiste und schweren Schrittes dem Stadtwald entgegensteuerte.
Ein Rundumblick über Clara‘s Leben sollte es werden oder zumindest ein angemessener Einblick.
Der Bericht sollte Licht auf das Leben dieser bestimmt so teuren neuen Nachbarin werfen, welche auf so tragische Weise verunfallt war und damit zu früh aus ihrem Leben gerissen; das wenigstens hatte Elke Ruby und den Kollegen vom Blatt erzählt.

***

Die genaue Leichenfundstelle war den Bewohner Eatrich‘s aus Respekt vor dem Vorfall fürs Erste vorenthalten wurden. Ebenfalls war der unglückliche Finder angehalten sich nur den Zuständigen Personen mitzuteilen, um das Verbreiten von Gerüchten oder Schauergeschichten zu unterbinden. Auch war der Waldweg aus Sicherheitsgründen abgesperrt worden und das unbeaufsichtigte Bewandern dieses entsprechend untersagt.
Elke aber – findig wie sie eben war – kannte den Fundort und sah sich auf Grundlage ihrer Pressezugehörigkeit und den Kontakten, die sie noch immer zur Wache pflegte im genehmigten Rahmen diesen näher zu untersuchen und so lief sie nun schnurstracks darauf zu.

Ja, man hatte es nicht weiter verbreitet, wo genau Clara Wiltau ihr Leben ließ.
Ja, man hatte den öffentlichen Zugang zum Wald verwehrt, seit dem Tag des Leichenfundes.
Ja, es schien deutlich ein Unfall gewesen zu sein.
Ja, es gab für die Polizei keinerlei Gründe, dem näher nachzugehen.
Ja…

Wenn all dem tatsächlich so war, wieso lag nun aber eine einzelne Blume, wie sanft auf die satt grünen Grasbüschel gebettet, am Wegesrand?

Ja, wieso lag dort eine weiße Lilie?

***

In den frühen Mittagsstunden hatte die Sommersonne endlich den Kampf gegen die dichte Wolkendecke für sich entschieden. Und mir ihr kam nicht nur eine wohlige Wärme auf, auch erstrahlten die Gemüter von Eatrich’s Einwohnerschaft. Es wurde geplaudert und gelacht, Waren angepriesen und verkauft, sich herzlich gegenseitig auf die Schulter geklopft, ganz so als hätte man sich zu lange nicht gesehen, als wäre die Zeit im Regen, im Gewittertumult schier endlos gewesen und nicht lediglich ein paar morgendliche Stunden.

Das kleine schwarz-weiße Kätzchen, welches dem regen Treiben auf dem Marktplatz gebannt folgte, wunderte sich nur kurz über diese allgemeine Festtagsstimmung im Angesicht der Julisonne, die sicher bald wieder verflucht und fortgewünscht werden würde, denn was anderes erwartete sie eigentlich nicht mehr von der Dorfgemeinde. Tilli wandte schließlich ihren aufmerksamen Blick stattdessen dem Blumenverkaufsstand zu, von dem aus sich gerade Gebrummel und Getuschel bemerkbar machte. Keine einfache Gesprächsrunde, kein bloßes Austauschen von Informationen, vielmehr aufgeladene Worte, zum Haare sträuben, fast giftig schon:

„Hast du Heidrun vorhin gesehen? Da hat die doch ne einzelne rosa Lilie geschenkt bekommen.”

„Ja, aber Meike vom Stand wollte natürlich nicht verraten von wem… Tse, als wär sowas ein Betriebsgeheimnis. ”

„Hat Heidrun die sich nicht vielleicht einfach selbst geschenkt? Bei all dem, was grad los ist… armes Ding.”

„Hm, die Kinder sollen angeblich gerade beim Vater sein. Diesmal ganz offiziell.”

„Ja, ja, sicher ein Sorgerechtsstreit inzwischen, nach dem Chaos, das die Buben letzten Winter verursacht haben.”

„Letzten Winter? Die waren doch schon immer völlig verzogen!“

„Ob die nun nen Neuen hat? Seht doch mal, wie die sich jetzt kleidet! In dem Alter…  und sie ist doch gerade mal seit nem Jahr vom Hartmut getrennt!”

Die Frauengruppe schwieg sich nun aus. Denn allen dachten zurück an den Ärger, den Heidrun‘s Kinder ausgelöst hatten. An die Sorgen, die deren Mutter und alle Nachbarn deswegen hatten ausstehen müssen. Aber auch an den Umstand, dass Verdächtigungen, dass Anschuldigungen nicht ausgeblieben waren und nicht ohne Scham daran, dass sie selbst sich allesamt daran beteiligt, sich mitverantwortlich gemacht hatten.
Das eigene Verhalten gespiegelt in den Augen aller; war man sich augenblicklich schweigend einig, keine Worte mehr über die Zeit vor sechs Monaten zu verlieren. Sanfter tönten deshalb nun ihre Stimmen.

„Im Grunde gönne ich es Heidrun, dass ihr nun endlich jemand schöne Augen macht… das war alles schon schlimm und ihr Hartmut keine Hilfe.”

„Er hat gar kein Recht mehr sich zu beschweren. Schließlich hat er sie mit zwei kleinen Kindern sitzen lassen. Wenn Heidrun nun verliebt ist, umso besser.”

„Und dabei haben sie es so lange versucht. Wie alt war sie bei der Geburt? Bestimmt schon Ende 30… Das muss man sich mal vorstellen!”

„Heidrun gönne ich‘s… nur muss sie sich so kleiden? Die Blumenmuster, und dann der kurze Rock. In ihrem Alter… Sie ist Lehrerin Herr Gott nochmal!”

„Es sind doch Ferien, nun sei nicht so…”

Die Katze wandte sich innerlich ihren Kopf schüttelnd von der Frauenrunde ab, um selbst einen Blick auf Heidrun Rühlich zu werfen – nicht das sie neugierig war, aber wissen wollte Tilli es schon.
Die sonst auch zu Ferienzeiten getragenen Hosenanzüge in gedeckten Farben hatte Heidrun eingetauscht gegen eine fliederfarbene ärmellose Bluse und einen knielangen Rock, der von einem Muster aus rosa Nelken gepaart mit Schleierkraut geziert wurde. Noch auffallender waren allerdings ihre Flip Flops mit weißen Nelken als Schmuck auf dem Riemchen.
Die seit Jahren immerzu müden grau-grünen Augen leuchteten beinahe im Sonnenschein. Die stets, wie zur Ungläubigkeit gewölbten Brauen schienen von innerlicher Ruhe geglättet. Und die krausen Lippen waren mit pinken Lippenstift in eine frohe Stimmung bemalt. Heidrun wirkte sehr zufrieden, sie machte auf das kleine Kätzchen, welches mittlerweile neben ihr auf einer der Marktplatzbänke Platz genommen hatte und sich nun von Heidrun streicheln ließ, einen mehr als entspannten Eindruck. Die rosa Lilie steckte ihr inzwischen im blondgefärbten Lockenkopf und dem Kätzchen fielen unter Heidrun‘s sanften Fingern die Augen zu.

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Glitzernd fiel das Licht der Nachmittagssonne durch die Äste, hob so beinahe jede einzelne Blüte der Parkwiese hervor.
Ob sie hier wohl so eine Blumenbombe gezündet haben, wie es in einige Großstätten stellenweise Gang und Gäbe war? Oder wurde hier in Eatrich selbst innerhalb des Ortes schlicht eine Natur-freundliches Leben geführt? Clara war sich beinahe sicher, dass das der Fall war, obgleich heute gerade mal ihr zweiter Ausflug weg von der schützenden Umzäunung der Kurklinik und in das Stadtgebiet Eatrich’s war.

Der Entschluss war gefasst, dies würde ihr neues Zuhause werden!

 Kinderlachen ertönte, gepaart mit dem Getrappel vieler kleiner Füße. Gleich würde sie nicht mehr allein auf dieser Bank nahe der Kindertagesstätte im Osten Eatrich‘s sein. Denn jeden Moment nun begann das so wichtige Gespräch mit Frau Maurer und Clara konnte sich ihr breites Lächeln, aber auch ihre Aufregung nicht mehr verkneifen.
Die khakifarbenen Hosen erneut glattgestrichen, den Dutt überprüft, das graue T-Shirt nochmals von imaginären Fusseln befreit, die Brille zurechtgerückt, die Hände in den Schoss gelegt, die…

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So hatte Frau Hilda Maurer, die Leiterin des Eatricher Kindergartens, angefangen Elke von ihrer ersten offiziellen Begegnung mit Clara zu erzählen.
Nervös hatte diese wohl gewirkt, unruhig, aber mit einer Leidenschaft, wie man sie sich oft nur wünschen kann, wenn es darum geht geeignete Personen für den wunderbaren, sehr wichtigen, oft auch harten Beruf des Kindergärtners zu finden.

Frau Maurer, welche Elke selbst noch aus Kindertagen kannte und die somit immer „Frau Maurer” für sie sein würde, zählte inzwischen bald mehr als 60 Lenzen und brauchte dringend entsprechend Unterstützung in der Kita, sicher bald auch einen Ersatz für sich. Zumindest gestand diese sich das ein; wenn auch leicht bedrückt. Die drahtige Figur in den blauen Jeans und dem pinken T-Shirt ließ Elke an alte Zeiten denken und trotzdem mit Ehrfurcht auf die ältere Dame vor sich blicken:
Kurzes graues Haar zierte mittlerweile Hilda Maurer‘s Haupt, die klugen braunen Augen inzwischen umspielt von tiefen Falten, der Mund nicht nur von Lachfältchen geziert. Ja, die Zeit ging auch an dieser rüstige Frau nicht länger spurlos vorbei und Elke konnte deren Wunsch Hilfe zu erhalten bei der Betreuung von Eatrich‘s jüngster Generation sehr gut verstehen, obwohl auch ihr der Gedanke daran, dass diese Ikone der Gemeinde sich alsbald zur Ruhe setzen würde einen beachtlichen Kloß im Hals bereitete. Irgendwann musste ein Zepter eben weitergereicht werden – ganz gleich für wie groß oder klein es gehalten wurde.
Es waren nie zu viele Kinder gleichzeitig in der Tagesstätte, zum einen da der Ort, wie schon zu Elkes Zeit, kaum Nachwuchs hatte und zum anderen da einige Mütter ihre Kinder am liebsten zuhause betreuten. Eine beaufsichtigte Spiel- und Lerngruppe wurde aber von allen Bürgern gern gesehen, selbst wenn diese mittlerweile nicht mehr als Ganztagsangebot genutzt werden konnte.

Erstmals war Hilda Maurer der Verstorbenen im Zuge eines Malkurses im Haus Instenburg begegnet. Die Kurklinik, die vorrangig auf Neuro-Psychologische Bedürfnisse ausgerichtet war, bot seit kurzem auch Kreativ- und Entspannungskurse für Jedermann an. Frau Maurer konnte diese nur empfehlen, wie sie Elke mit überschäumender Begeisterung erklärte. Eine „ganz tolle junge Dame” halte die Kurse und diese hatte Frau Maurer auch gleich mit Clara Wiltau bekannt gemacht. Schon in ihrem ersten kurzen Gespräch wusste diese, dass sie mit Clara eine „ganz arme Seele” vor sich hatte, ein „liebevolles Persönchen, welches unbedingt die richtigen Leute um sich brauchte”. Der Kindergärtnerin war offenbar von vornherein klar gewesen, dass sie in Clara jemanden gefunden hatte, die es wirklich verdienen würde Vertrauen und Kraft in ihr Fortkommen zu investieren.
Laut Frau Maurer war Clara „nämlich sehr unglücklich mit ihrer momentanen Arbeits- und Lebenssituation“; sie erzählte weiterhin, dass diese es zwar nicht direkt so gesagt hätte, doch für die Kindergärtnerin stand es außer Frage:
Clara fühlte sich ausgenutzt und überfordert.

„So etwas spürt man schließlich! Dafür braucht es keine großen Worte zu geben!“, betonte Frau Maurer nochmals und stemmte zur Untermalung dieser Weisheit ihrer geballten Fäuste in die schmale Hüfte. Dass Clara zu den Kollegen keinen rechten Anschluss hatte finden können, erwähnte diese dann tatsächlich. Sie hatte bis zu ihrem Entschluss nach Eatrich zu kommen in der Firma des Lebensgefährten als Buchhalterin gearbeitet. Dass so etwas nicht immer ganz einfach sein konnte, erschloss sich auch Elke.

„Er ist irgendwie verändert in letzter Zeit.”, hatte Clara Hilda Maurer gegenüber vorsichtig durchblicken lassen. Auch hätten die beiden mächtig Krach gehabt, nachdem Clara sich mit Burnout krankschreiben lassen wollte, lassen musste, und letztlich im Haus Instenburg Hilfe suchte und fand. Hilda Maurers Stimme nahm mit einem Mal einen bitteren Ton an, als sie von Clara‘s Beziehung sprach und davon, dass diese nicht mal sicher war, ob ihr Lebenspartner seit 15 Jahren, für den sie sich so viele Jahre verbogen hatte, gegen den sie nie etwas sagte, bis sie dann erstmals in der Klinik die Kraft dazu verleihen bekam, sie nicht einfach verlassen würde für ihren Wunsch etwas neues zu wagen.
Sich voll und ganz zurückzunehmen und nur die Träume und Wünsche eines anderen zu erfüllen, schien ihr eine irgendwie triste Vorstellung zu sein. Doch musste sowas gleich dazu führen, das Handtuch zu werfen und sogar nicht nur den Job, sondern die Stadt zu verlassen? Sann Elke in sich hinein.
Direkt im Anschluss des offiziellen Vorstellungsgesprächs, einer Unterhaltung unter guten Bekannten vielmehr, wie Frau Maurer nun wieder mit seichterer Stimmlage berichtete, war Clara Wiltau mit einer Anstellung als Assistentin der Kita-Leitung und lernende Kinderbetreuerin unter Frau Maurer höchstpersönlich zurück in die Kurklinik gekehrt. Hilda Maurer selbst wandte sich umgehend an ihren langzeitigen Vertrauten – dem örtlichen Bürgermeister – um sicher zu stellen, dass Clara‘s Einzug in die Gemeinschaft Eatrich‘s nichts im Wege stehen würde.
Elke hätte noch so viele Fragen an Hilda Maurer gehabt, doch diese schien in ihrem Monolog zum Abschluss gekommen zu sein, trocknete nur noch ihre Tränen und entschuldigte sich.

Bevor auch sie aufbrach, verfolgte Elke noch für ein paar Minuten das gesellige Treiben von Eatrich‘s jüngster Generation. Die Kinder jauchzten, rannten, spielten Verstecken und Gummihopse; ein bunter Haufen Fröhlichkeit auf Blumen, neben Sträuchern unter Bäumen. Und Elke konnte die milde Geduld gepaart mit Stringenz – wenn angebracht – welche Frau Hilda Maurer seit Jahrzehnten den wechselnden Rasselbanden des Ortes widmete einfach nicht begreifen. Natürlich respektierte sie die Person und den Beruf, der ihr gesamtes Leben ausfüllte und erfüllte. Das zumindest lag schlicht in Elkes Natur, auch wenn sie sich selbst nie auf einem solchen Lebensweg sehen würde können. Dass jemand, wie diese Clara Wiltau eine feste Anstellung, auch wenn sie noch so unzufrieden damit war, einfach wegwarf, nur für die Möglichkeit in einer ihr fremden Stadt völlig neu anzufangen, wirkte auf Elke ebenfalls eher befremdlich. „Wer im Glashaus sitzt…”, spürte sie Ruby‘s Worte praktisch im Nacken.

„Aber, das kann man nicht so leicht vergleichen! Ich bin hier aufgewachsen und war nur ein paar Jahre weg. Außerdem musste ich wieder herziehen für Mutter!”, wollte Elke ihrer eingebildeten Gesprächspartnerin entgegen werfen.
Wer wusste schon, was Clara tatsächlich bewogen hatte dieses Risiko – und es war nun mal eins – in Betracht zu ziehen.

Doch obgleich noch einiges ungeklärt war, Elke wusste jetzt, an wen sie sich als nächstes wenden könnte und auch, wie sie ihre Reportage gestalten wollte. Genau wie der Partezettel sollte diese aus Sicht von Clara geschrieben sein. Und mit all den Recherchen, die da hineinfließen würden, fühlte sich Elke in einer guten Position eben genau dieses zu tun.
Das käme sicher gut an und würde dem Leser die Möglichkeit geben sich emotional mit Clara Wiltau zu verbinden und Elke wiederum, so hoffte sie, eine Leserschaft über die Ortsgrenzen hinaus zu verschaffen.

***

Die Dunkelheit der Nacht begann sich langsam über die Häuser Eatrich‘s zu legen. Die Straßen nun wie leergefegt, da es nicht wirklich was zu tun gab im Orte nach 9Uhr. Eine Kneipe gab es nicht und sollte es auch niemals geben, das Gasthaus inzwischen schon geschlossen, die Frauenrunde bereits Heimgekehrt und auch im Whisky-Klub fanden sich um diese Uhrzeit keine Herren mehr ein; der Abend gehörte der Familie und dem Fernsehgerät ging es nach den vielen blau leuchtenden Fenstern.
Tilli aber genoss die Abendstille, die Zeit, wenn die Nacht nicht mehr fern war, wenn die Glocke des Raumklimas Stadt sich erhob und nunmehr sanftere Luftzüge sich durch die Straßen drückten. Ganz besonders an diesen heißen Tagen des Sommers, die seit Wochen schon die Luft, das Wasser und Boden durchdrangen. Selbst stärkere Windzüge im Lichte der Tagesstunden schoben lediglich die beklemmende Luft vor sich her und Wolkenbrüche, wie der heutige, waren doch viel zu kurz, um wirkliche Abkühlung zu bringen. An diesen sich endlos ziehenden Sommertagen konnte ein Jeder die kleine schwarz-weiße Katze durch die Straßen und um die Häuser ziehen sehen, denn sie liebte den Augenblick da die drückende Hitze des Tages der klärenden Kühle der Nacht zu weichen begann, wenn die Ruhe in den Ort einkehrte, sich der gemeinschaftliche Tumult zum privaten wandelte und nur noch vor den flackernden Bildschirmen seinen Ausdruck fand.
Mit gespitzten Ohren und scharfen Blickes bewegte sich das Kätzchen von Tür zu Tür, über Bänke und Tische und kam alsweilen auf Fenstersimsen zum sitzen. Sie sah und hörte so all das, was bei Tage nur vermutet werden konnte. Was niemanden was anging und über das ein jeder sich verlor. Was bei Tage Allgemeingut schien, was bei Nacht einem selbst gehören durfte. Was eigentlich privat sein sollte, doch zu oft in den öffentlichen Raum gezerrt, zerpflückt, wild spekuliert, surreal angehoben, negiert, verachtet und beneidet wurde. Und so saß das Kätzchen auch während dieser Dämmerung mal wieder auf Heidrun Rühlich‘s Fensterbank und stöberte durch das halb geöffnete Fenster ins Innere hinein.
Durchdringender Lavendelduft traf Tilli‘s Sinne, machte ihre Augen fast wässrig und brachte die Katze zum Niesen. Nur kurz noch lauschte sie dem schnell fließenden Monolog, der an scheinbar passenden Stellen von Heidrun‘s rauer Stimme mit „Uhhs” und „Ahhs” punktiert wurde, bevor sie sich vom starken Aroma der Duftkerzen vertrieben sah und mit hängendem Kopf dem Paar seine wohl verdiente Privatsphäre gönnte.

-II-

Neuer Tag, neues Glück.

Nachdem sie gestern niemanden vom Rathaus hatte erreichen können, bat Elke am nächsten Morgen bei der ersten Gelegenheit, um einen Gesprächstermin mit dem Herrn Bürgermeister. Dass sie dafür allerdings Frau Maurer‘s Hilfe benötigte und entsprechend hatte warten müssen, bis diese sich die Zeit dafür nehmen konnte, ging Elke ein wenig gegen den Strich; schließlich war sie doch jetzt Reporterin und müsste das nicht was heißen?
Ruby – immer feinfühlige Ruby – goss  ihr erneut Kaffee auf und beschwor sie zur Geduld. Die Idee für Elkes Reportage sagte ihr natürlich voll zu, denn „ein Leben noch nach dem Tod zu ehren”, sei immer von hoher Wichtigkeit und „wie schön, wie ehrerbietig” es doch war die Geschichte, Clara’s Geschichte aus deren Sicht zu erzählen. Ruby‘s Lobhudelei beruhigte Elke ungemein, denn wenn sie ihre liebste Freundin hatte davon überzeugen können, zog der Rest, der hoffentlich breiten, Leserschaft sicher nach; Emotionen zogen doch fast immer. Und darauf baute Elke.

***

Gegen Mittag war sie nun endlich auf ihrem Weg zum Rathaus; den eigens gekauften Notizblock nebst neuem Kugelschreiber – ein Geschenk von Ruby – im kleinen grauen Rucksack verstaut, fühlte Elke sich gut ausgerüstet für ihren Termin mit Herrn Ballert, dem Bürgermeister Eatrich’s:
Ihre Kleidung formal, das kurze, krause braune Haar auf Seitenscheitel gekämmt, das runde Gesicht frei von Makeup. So schob sie sich nun leichtfüßiger, als ihre Statur vermuten ließ, durch die offene Bürotür. Auf die Tüte Selbstgebackenes „für den guten Freund” von Hilda Maurer hatte sie verzichtet, da sie nicht glaubte so eine Geste sei erwünscht oder angebracht. Zudem befürchtete sie so etwas könnte möglicherweise von ihrem Wunsch einen professionellen Eindruck zu hinterlassen ablenken. Nun da Elke von Angesicht zu Angesicht mit dem ergrauten, vom Alter tief gebeugten Herrn im beigen Strickvestover stand, wünschte sie sich die Kekse zurück.
Zu ihrem Glück und persönlichen Graus hatte Frau Maurer wohl mächtig die Werbetrommel für Elke gerührt und so ergab sich im bescheiden eingerichteten Konferenzraum des Rathauses ein zwar kurzes, aber dennoch recht hilfreiches Gespräch mit Eatrich‘s Bürgermeister. Zumindest konnte Elke für alles, was sie am Vortag hatte lernen können Bestätigung finden in Herr Ballert‘s laut und überdeutlich gesprochenen Worten.
Er selbst war Clara Wiltau zwar nicht persönlich begegnet, vertraute aber „seiner Hilda“ und deren Einschätzung. Und somit natürlich auch ihrem Bitten und Drängen Clara zu unterstützen, da diese eine „bezaubernde Person” sei, ausgestattet mit „einer Fülle von Fähigkeiten, derer sie sich bisher noch nicht ganz gewahr war, gewahr sein konnte”, wie die Kindergärtnerin wohl unter brechender Stimme nachgesetzt hatte. Was genau Frau Maurer damit gemeinte haben mochte, kam Elke nicht in den Sinn und der Bürgermeister wollte es nicht weiter ausführen. Er wusste es bestimmt selbst nicht, brütete Elke in sich hinein und kämpfte nun sehr damit ihre Gesichtszüge neutral zu halten. Besonders da sie sich auch fragte, wie groß eigentlich der Einfluss mancher Leute – sicher doch nicht nur Hilda Maurer’s – auf das Amt des Bürgermeisters und dessen Entscheidungsfindung tatsächlich war. Obgleich dieser sich pflichtgemäß erst noch mit der Klinikleitung in Verbindung gesetzt hatte, von der Herr Ballert ebenfalls nur Positives zu hören bekam, wie er unter Elkes doch leicht entglittenem Gesichtsausdruck versicherte. Eine Ratsversammlung, selbst eine Formale, hätte in seinen Augen unnötig Zeit gekostet und so hatte Herr Ballert seinen Beschluss noch am selbigen Tag dem Stadtrat einfach mitgeteilt. Dieser nickte die Entscheidung letztlich nur noch ab.
Auch diese Erkenntnis erforderte ein Höchstmaß an Zurückhaltung von Elke, da sie sich der Stolpersteine beim eigenen Rückzug in die Heimatstadt erinnerte und nun umso mehr zurückgesetzt fühlte im Angesicht dieser drastischen Unternehmungen für jemand Fremden, jemanden aus der Klinik. Als der Bürgermeister sie allerdings fragte, weshalb sie mit den leicht verfärbten Zähnen knirschte, drückte Elke nur ihre Bestürzung darüber aus, dass ein Leben so ein frühes Ende hatte finden müssen.
Zumindest eine Sache kristallisierte sich heraus. Herr Ballert hatte Clara zwar Tür und Tor geöffnet, ohne ihr jemals begegnet zu sein, brachte es aber auch nicht übers Herz die Leichenfundstelle aufzusuchen. Er sah Elkes Reportage allerdings „mit Freuden entgegen, denn ein jeder, der es fertig brachte Hilda‘s Herz zu stehlen, gehörte wie ein Mitglied der eigenen Familie behandelt.” und er würde Elke bei ihren Recherchen „mit allen Freiheiten ausstatten” und oh, wie sehr erfreute es diese das zu hören.

***

„Warum verrät die nicht, wer ihr Neuer ist?”

„Vielleicht ist es Heidrun einfach unangenehm… ihr wisst schon, es geht ja eigentlich auch niemanden was an.”

„Tse… Wir sind doch alle Freunde und haben ein Recht, nein, die Pflicht uns Gedanken zu machen!”

„Was ist, wenn er ihr peinlich ist?”

„Oh ja, bestimmt so einer aus der Klinik! Da besucht sie ja ständig diese Kurse…”

„Nicht das Heidrun auf einen Patienten reingefallen ist… oder schlimmer bald noch, einer von den Angestellten?!”

„Der Doktor wäre aber schon ne gute Wahl, so als Oberarzt und Chef…”

„Der ist doch ledig, nicht wahr?”

Elke kam nicht umhin den aufgebracht klingenden Gesprächsfetzen des Eatricher Frauenbundes zu lauschen, welcher sich vor den Toren des Rathauses aufgebaut hatte, um die Vorbereitungen der, für den morgigen Tag, anberaumten Stadtversammlung zu unterstützen. Auf dieser sollte nun eine endgültige Entscheidung zum Thema Stadtwald und die mögliche Freigabe oder eben endgültige Schließung des letzten offiziellen Wanderweges innerhalb des Naturschutzgebietes gefällt werden.
Elke war es gleich, Wandern gehörte nun wirklich nicht zu ihren Hobbys. Doch… Hm … Heidrun also unter neuen Armen… Elke müsste das natürlich ebenso gleich sein, wie der vermaledeite Waldweg, doch… Neugierde war nun einmal höllisch ansteckend… und wenn wirklich der Hinterseer von der Klinik sich an Heidrun gehängt hatte oder vielmehr sie an ihn, witterte ihre zwar noch recht neue, aber umso stärkere Reporterspürnase einen lauernden Skandal…

Halt, nicht ablenken lassen jetzt…
Es gab Wichtigeres gerade…
Sie hatte eine Reportage zu schreiben!

Elke war inzwischen so schnell wie die pralle Sonne der Nachmittagszeit es eben zuließ schnurstracks gen Westen gelaufen. Auch wenn sie beinahe schwebte inmitten ihrer Gedankengänge um den großen Traum vom erfolgreichen Journalistentum und all seiner potenziell ausschweifenden Fließrichtungen, die ganz den dicken Schweißperlen auf ihrer Stirn gleich nur so aus Elke herausströmten, wollte sie dennoch vor Dienstschluss zur Wache kommen.

***

Wie wohl nicht anders zu erwarten, konnte Elke nur noch Oberwachmeister Klausner antreffen, welcher sich seinerseits gerade zum Schließen der Wache anschickte – Freitag nach eins und so weiter; nur das heute halt Dienstag war. Nicht, dass Eatrich nun unbedingt für seine Polizei berühmt war oder musste, denn Nachbarschaftsbeteiligung wurde hier noch Groß geschrieben.
Schon während der paar Monate als sie damals noch ihre Halbtagesanstellung als Sekretärin ausgefüllt hatte, kam Elke sich meistens eher wie eine bessere Putz- und Tresenkraft vor. Für ihren jetzigen Job – ihrer wahren Berufung – kamen  ihr die Kontakte auf der Wache allerdings mehr als entgegen. Wie sonst wäre sie an das Photo von Clara‘s Leichnam gekommen, wenn nicht über diese Quellen. Obgleich der gute Klausner etwas schwerer davon zu überzeugen gewesen war, dass es so dringend notwendig erschien, einen solch ausschweifenden Partezettel zu kreieren, denn:

„Eine simple Todesanzeige hätte es sicher auch getan. Was soll der ganze Schnickschnack überhaupt? Muss man denn alles zum Spektakel machen?”… Elke aber blieb stoisch und argumentierte, dass es sich bei Clara Wiltau schließlich nicht um einen der üblichen Tode im Ort handle. So hatte man ihr dann, wenn auch unter knirschenden Zähnen einen kurzen Blick auf eines der Photos gewährt, wenn auch eigentlich nur vom ominösen Halstuch abwärts; um ihre Nerven zu schonen, wie es hieß. Das Haar wurde Elke knapp beschrieben und den Rest von Clara‘s Gesichtszügen, mitsamt dem Stand ihres Makeups fügte Elke in kreativer Eigenarbeit halt erstmal eigens in den Partezettel ein. Wie hätte sie sonst einen nachvollziehbaren Gesamteindruck schaffen sollen, verteidigte Elke die Entscheidung später vor Ruby und sich selbst.
Und auch an diesem Tage blickte der großgewachsene Mann mit dem lichten Haar eher abfällig auf Elke herab, obwohl Klausner es war, der saß. Eine Fähigkeit, die sogar in Elke Respekt auszulösen vermochte, aber ihr jetzt eher im Weg stand.

„Herr Ballart hat mir den Auftrag der Verstorbenen Gerecht zu werden höchst persönlich erteilt.”

„Ach, der alte Zausel nun wieder…”, stöhnte Klausner und ließ das breite Kreuz, wie in Aufgabe zusammensacken.
Das breite Grinsen nicht unterdrückend, tänzelte Elke zu ihrem alten Schreibtisch und wartete nun ungeduldig, aber mit selbstzufriedener Miene, auf die Unterlagen.

Die dünne Akte bestürzt in Händen, blickte Elke bloß noch ungläubig drein.

„Das ist alles, was ihr habt? Die paar Tatortphotos und ihr Name?”

„Sollte es mehr geben? Es war ein Unfall!”, zischte Klausner vom anderen Ende des Büros, rollte die grünen Augen und wandte sich erneut seiner Zeitung zu.

„Es gibt doch sicherlich Unterlagen aus der Klinik! Habt ihr die denn nicht angefordert?”, gab Elke nicht auf.

„Wozu? Ihre Identität konnten wir ihrem Portemonnaie entnehmen.”

Bevor Elke zu Wort kam, setzte Klausner mit betont deutlicher Aussprache nach:

„Das Frau Wiltau bis dato Kurgast im Haus Instenburg gewesen war, bestätigte sich über die Unterlagen, welche in der Aktentasche mit sich führte. Und, ja wir haben das überprüft. Ja, der Leichnam ist identifiziert wurden; Doktor Hinterseer kam extra noch am selben Tag in der Bezirksgerichtsmedizin. Und natürlich haben wir Frau Wiltau‘s Kontaktdaten eingesehen und überprüft. Noch Fragen?”
Die Gesichtszüge des sonst so gelassenen Oberwachmeisters waren mittlerweile wie in Rage. Auch zierten rote Flecken die hohen Wangenknochen, der Schweiß stand ihm auf der Stirn und Elke hätte schwören können den immer schneller werdenden Puls in der Halsschlagader zu sehen. Auch bebte Klausners Stimme zum Ende seines kurzen Monologs hin beinahe bedrohlich, ganz so als duldete er keinen Widerspruch mehr. Und wer mit dem Chef des Eatricher Reviers schon mal aneinandergeraten war, wusste darum seine Geduld nicht zu überreizen. Denn Rudolf Klausner mochte ein ruhiges Gemüt nach außen tragen, sein Geduldsfaden aber war hauchdünn. Der 50 jährige Oberwachmeister rühmte sich jahrzehntelanger Diensterfahrung und seiner ganz eigenen Spürnase, wie Elke wusste und derer sie normalerweise traute, nur…

„Wenn ihr Clara‘s Kontaktdaten überprüft habt, wieso habt ihr euch dann nicht an ihre Angehörigen zur Identifizierung vom Leichnam gewandt? Weshalb also musste der Doktor ran?”

Ein tiefer Atemzug durch die gerötete Nase … Zwei, Drei, Vier … hörbares, betont langsames Ausatmen durch spröden Lippen … Fünf, Sechs, Sieben … ein Geräusch, wie das Knurren eines großen Tieres … Acht, Neun, Zehn … nur noch ein Schnalzen der wuchtigen Zunge und Elke wusste Klausner würde ihr, nun wieder ausdrücklich ruhig, eine Antwort geben:

„Angehörige hat Frau Wiltau keine. Es gibt da nur den Lebensgefährten, ein Herr Anton Nauer. Laut Klinik hat dieser die Vollmacht über Clara Wiltau. Leider konnten wir ihn lediglich telefonisch über das Ableben seiner Partnerin informieren, denn er ist derzeit geschäftlich unterwegs und wünscht nicht gestört zu werden. Seine Firma bestätigte dieses. Da Frau Wiltau den Angaben des Klinikpersonals keine weiteren Vertrauten oder engeren Bekannten zu haben schien, wird ihr Körper bis auf Weiteres im Leichenschauhaus verwahrt.”

Nun war es an Elke langsam bis Zehn zu zählen. Clara‘s Lebensgefährte war auch ihr Bevollmächtigter und ihr Tod nicht Anlass genug eine Dienstreise abzukürzen?!
Ein Gefühl bezwungen worden zu sein, welches nicht ihr eigenes war, übermannte Elke. Mit leiser Stimme bat sie für ihre weitere Recherche nur noch um den Namen von Clara‘s unglücklichen Finders.
Klausner, statt ihren Schock mit Spott zu negieren, gab Elke nun alle Kontaktdaten – „dass sie ein vollständiges Bild zeichne” – und einen wissenden Blick. Ihrer allerdings fiel nichts sehen wollend aus dem Fenster. Wurde geblendet vom Sonnenlicht, und wehrte sich nicht. Schweifte dann über einen vergessenen, nun welken Strauß aus rosa Hortensien am Wegesrand. Und blieb schließlich hängen an der eigenen Reflexion im Computerbildschirm.

***

Wieder brach allmählich die Nacht über Eatrich herein; krauchte vielmehr, ganz üblich solch lauen Sommerabenden, wie diesem. Die Wolkendecke drohend dicht seit den späten Nachmittagsstunden, warnte vor Regengüssen in naher Zukunft und hielt zugleich die Wärme fest. Gönnte keinen Windhauch, keine Abkühlung, kein Aufatmen.
Die Fenster waren trotzdem und vielleicht auch aus purer Hoffnung auf einen nächtlichen Wolkenbruch allesamt weit geöffnet, gewährten so Einblick, schafften ein Hineinhören; zeigten den Spion frei vom Widerschein des eigenen Ichs.
Die kleine schwarz-weiße Katze sich all dessen vollends gewahr, störte sich nicht an den erst erschrockenen, dann fragenden, schließlich amüsierten Blicken, welche man ihr von Zeit zu Zeit und aus offenen Wohnzimmerstuben entgegenwarf. Tilli und ihre allabendlichen Spaziergänge gehörten mit zur Stadtkultur. Denn dieses Kätzchen, was seit Jahren das Revier ‚Eatrich und Umgebung‘ für sich beanspruchte, war inzwischen fast schon, wie das Ortswappen – drei Anemonen umspielt mit Ranunkeln – immer gern gesehen und mit Heimatliebe verknüpft. Somit sah und hörte diese Katze alles, ohne dass es für sie oder die Belauschten Folgen aufwarf. Zuweilen vertrauten sich die Ortsansässigen ihr sogar persönlich an. Fanden in Tilli eine geduldige, nie urteilende Zuhörerin. Entledigten sich manch freudige oder trauriger Belangen, berichteten von Neuigkeiten und Erinnerungen, nutzen sie als Beichtnehmer und Zeuge. Denn wer glaubte heutzutage schon ernsthaft daran, dass Katzen sich eine Meinung bildeten über das, was sie so mitkamen von ihren (Mit)Menschen.
Starker Rosenduft holte Tilli aus den Gedanken und an das Fenster Heidrun Rühlichs. Die Ursache diesmal keine Kerzen, sondern ein prächtiger Strauß roter Rosen, der direkt auf der Fensterbank thronte und somit im Blickfeld neugieriger Augenpaare; nicht aber gespitzter Ohren stand. Und so wurde an diesem Abend die schwarz-weiß befellte Katze ein Zeuge ganz anderer Natürlichkeiten.

Kein Monolog war es, den es zu belauschen gab. Nein . Flüsternde Stimmen … tiefe, schwere Atemzüge, die da schneller wurden … ein Wimmern … ein Flehen … sowas wie Grunzen … ein halb-verschlucktes Stöhnen … ein Seufzen … ein Kichern … ein Prusten … ein Lachen…

Nicht nur vom schier unerträglichen Angriff auf ihre Nase ließ das Kätzchen die beiden sich liebenden, das Fenster und die Szene zügig sich selbst überlassen.

 

-III-

Noch immer fassungslos von ihrem Besuch bei der Dienststelle am Vortag ging Elke ihre Recherche und damit den nächsten Tag weitaus bedachter, ja klangloser an. Selbst Ruby‘s extra süßer Morgenkaffee und die angenehm temperierte Sonne-Wolkenmischung wollte sie nicht recht aufheitern.
Die Photos, die Elke dank der zur kurzen Einsicht ausgehändigten Akte nun in Gänze hatte begutachten können und die sie ja so unbedingt hatte sehen wollen, zeigten all die Details, derer Elke bisher nicht gewahr gewesen war. Zeigten die vollkommen unromantische, mehr noch die brutale Seite eines so tragisch geendeten Lebens. Zeigten das Gesamtbild. Klärten Elke über das ganze Ausmaß von Clara Wiltau‘s betrüblichen Endes auf. Es waren Bilder, von denen sie selbst jetzt noch nicht sicher war, nicht sicher sein konnte, dass sie diese je wieder würde vergessen können.

Clara war laut Befundbericht einem schweren Schädelhirntrauma erlegen. Klausner gab ihr telefonisch noch am Vorabend Auszüge der Obduktion durch, die die Einschätzung der Eatricher Beamten bestätigte und ebenfalls einen Unfalltod als Ursache deklarierten.
Der Körper seltsam gekrümmt, halb auf der Seite liegend, halb in Bauchlage. Ganz so, als hätte dieser sich vor dem Tode noch versucht zu drehen. Die beige Kleidung schmutzverdreckt, mit tiefen Rissen am Rocksaum. Der Kopf gedreht mit Blick gen Eatrich. Die klaffende Kopfwunde noch nicht ganz abgetrocknet. Die Blutlache weit geflossen um den Schädel; das Gras als Schwamm. Das bräunlich-rot durchtränkte Haar, die Schreckgeweiteten Augen, der offene Mund, aus welchem dunkelrot verfärbte Zähne blitzten, die hängende Zunge…
Elke zuckte bei der Erinnerung an die Photos erneut zusammen. Hielt inne auf ihrem Weg zu Herrn Renner, dem Finder des Leichnams, und vollzog jene Atemübungen, die Ruby ihr beigebracht hatte:

Fest verschlossenen Augen, die Körperhaltung bewusst entspannt, die Gedanken fixiert auf etwas Positives – auf die schützende Umarmung, die beruhigenden Worte mit weicher Stimme, die wohlige Wärme – Ruby.

***

Das kleine Wohnzimmer, in dem Elke sich später wiederfand und das dank einer raumfüllenden Eckcouch, deren, durch jahrzehntelangem Gebrauch leicht abgewetzten und verblassten lachsfarbene Polsterung mit einer kräftig dunklen Decke nur halbverhüllt wurde, ließ beinahe keinen Meter Trittfläche zu. Sie versprach aber einen gemütlichen Platz zum Lesen. Was auch, wie die reiche Auswahl an Büchern, deren Flut bereits im Hausflur begann, sich dann auch auf sämtlichen Tischen, in Regalen und unter Sofakissen ergoss und ganz offensichtlich des Hausherrn liebste Beschäftigung war.
Herr Renner‘s offene Art und das geordnete Chaos in seinem Wohnraum wirkten zu Elkes Erstaunen und Begeisterung wahre Wunder auf ihr noch immer leicht angeschlagenes Nervenkostüm und sie empfand unmittelbar tiefen Respekt für diesen kauzigen Herren. Und vielleicht erschien es den meisten Leuten als ungewöhnlich, aber allein die Begegnung gepaart mit der sich zügig anschließende und ausgedehnte Unterhaltung mit Werner Renner, dem alteingesessenen Förster von Eatrich, brachten Elke irgendwie wieder zur Ruhe.
Obgleich Herr Renner hoch in die 70 ging, nahm sich dieser so hagere Mann seiner Aufgaben im örtlichen Forstbetrieb nach wie vor und unter vollem Arbeitseifer an. Natürlich gab es mittlerweile ein jüngeres Team, das die Pflege des Stadtparks und die Aufsicht des Waldes übernahm. Doch Werner Renner blieb bis zum heutigen Tage ein gern gesehener Kamerad, dessen praktische Erfahrung und umfangreiches Wissen zur naturnahen Waldpflege man oft und gern entgegennahm. Auch ließ es sich das rüstige Mannsstück nicht nehmen die alljährliche Wegräumung zu Beginn der Frühlingszeit zu beaufsichtigen. Die eigens für den Baumabtransport eingesetzten Esel kannte der Förster genau wie das momentane Landschaftspflege-Team schon von Kindesbeinen an, berichtete er nun Elke bei einer Tasse Kräutertee und unter lautem Lachen.
Seine Geschichten faszinierten Elke und halfen wohl beiden über das schwierige Erlebnis von vor sechs Tagen hinweg zu kommen; zumindest ein wenig.

Es war ein Freitag gewesen, an dem Herr Renner nun zum unglücklichen Finder von Clara Wiltau geworden war.

„Ja, letzte Woche Freitag ist es passiert, bei schönstem Sonnenschein und noch mitten am Tag. Irgendwie verbinde ich solch grausige Erzählung mit den Stunden zur Dämmerung, bei Nieselregen und eisigem Wind. Im Abendkrimi ist das doch immer so, nicht wahr?”

Elke schluckte, doch wagte es nicht Werner Renner‘s Ausführungen zu unterbrechen.

„Es war so unheimlich still, als ich ihren Körper da liegen sah; selbst die Vögel hielten den Atem an. Keine Seele weit und breit. Nicht einmal ein Rascheln im Geäst… Der Wald wusste, dass etwas Schreckliches passiert war… man kann so etwas fühlen! Ihr To… der Sturz muss erst wenige Minuten her gewesen sein; das Blut konnte ich noch ganz deutlich riechen… Ich hätte doch was hören müssen!”, seine Stimme stockte nun, er kam ins Husten.
Elke, die ihm schnell ein Glas Wasser reichte, hielt Werner Renner, diesen so tapferen alten Herrn, zu einer Atempause an. Sie wollte ihn auf gar keinen Fall weiter aufregen, beschwichtigte ihn, dass es sicher sehr schnell gegangen war, dass er nichts hätte tun können und dass er ihr jetzt schon eine große Hilfe gewesen sei.

***

Nach einer weiteren, wesentlich gesetzteren, Stunde zog Elke schließlich ihres Weges. Sie hatten noch ein wenig über die guten alten Zeiten geplaudert; der letzte Freitag blieb aber unerwähnt. Herr Renner hatte seit diesem Tage auch keinen Fuß mehr in den Wald gesetzt. Was für Elke bedeutete, dass die weiße Lilie auch nicht von ihm stammen konnte.
Klausner versicherte ihr im sich anschließenden Telefongespräch zum wiederholten Male und mit ehrlicher Geduld, dass auch vom Revier niemand mehr zur Unfallstelle zurückgekehrt war und dass sich sämtliche Anwohner an das Verbot, den Waldweg zu begehen, hielten.

Woher kam also die weiße Lilie?

Die Erklärung des Unfalltodes erschien Elke mehr und mehr eine zu einfache Lösung zu sein, zu sehr als Etwas, dass keiner weiteren Fragen bedurfte.
Von den Leuten, mit denen sie bisher gesprochen hatte, war keiner mehr oder noch nie am Fundort gewesen. Der Rest der Stadt kannte die genaue Stelle angeblich nicht. Die platzierte Blume, die bekanntermaßen auch für den Tod eines Menschen stand, widersprach Elkes Meinung nach allerdings der Unfall-These. Auch sprach die Blume dagegen, dass jemand zufällig über diesen speziellen Wegpunkt gestolpert war. Denn wer trug schon weiße Lilien mit sich rum? Ein geplantes Suchen und Finden am Montagmorgen – die Blume war neu gewesen – schien auch mehr als unwahrscheinlich, da der starke Regen sämtliche Spuren verwischt hatte und eigens gelegte Markierungen waren Elke nicht aufgefallen; sie verbrachte einiges an Zeit damit nach solchen Ausschau zu halten.
Jedoch wenn jemand Clara‘s Tod verursacht hätte, und demjenigen das im Nachhinein dann Leid tat, wäre das sicher ein Grund sich die Todesstelle gut zu merken und diese selbst bei Regen erneut zu finden!

Aber was für Gründe könnte es gegeben haben Clara den Tod zu wünschen?
Konnte es sein, dass jemand ihr den Neuanfang in Eatrich nicht vergönnt hatte? Ein neidischer Mitpatient vielleicht?
Der ominöse Lebensgefährte vielleicht? Schließlich hatten sie gestritten. Außerdem war dieser noch immer nicht zu erreichen gewesen. Elke hatte sowohl ihm persönlich, als auch bei seiner Firma inzwischen mehrere Nachrichten hinterlassen – bisher ohne Erfolg.
Oder doch einfach nur ein Mord aus Gelegenheit?

Der Besuch des Hauses Instenburg stand für Elke in jedem Fall als nächstes an.
Denn das Geheimnis um die weiße Lilie ließ Elke nicht mehr los.

***

Die kleine Katze erhaschte gerade noch einen Blick auf Elkes Rücken, als diese sich schweren, aber zügigen Schrittes über den Marktplatz und offenbar in Richtung Stadtwald bewegte – ein Hurrikan aus grau-blauen Längsstreifen und Bestimmtheit. Und eine so ganz andere Stimmung verbreitend, als das Gro der gemächliche Nachbarschaftsmasse, welche sich so allmählich ins Rathaus schob, um der außerordentlichen Stadtversammlung beizuwohnen. Nur die Damen des Frauenbundes verweilten noch vor den Toren des roten Backsteinbaus. Sie traten unruhigen Fußes auf und ab und rauften sich frisch gemachte Frisuren:

„Wo bleibt sie nur?“

„Nicht das was passiert ist.”

„Ach Quatsch… die amüsiert sich sicherlich.”

„Na hoffentlich nicht mit einem unserer Männer!”

„Mach dich nicht lächerlich!”

„Gabi! Nicht so schroff… und es sind ja alle bereits bei der Versammlung…”

„Zumindest die wahren Nachbarn.”

Tilli ließ die rüde Runde ihre konversationellen Kreise drehen und stattete eilig Heidrun’s Fenster einen Besuch ab.
Der Strauß roter Rosen verdeckte noch immer den Einblick, nur war dieser nicht länger prächtig und stark duftend.

„Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.”, hauchte es der Katze mit Heidruns leiser Stimme.

„Ja, das hast du.”, folgte es dem Bekenntnis nach.

Dem folgte bloß noch ein lautes Schweigen.

***

Der Schweiß hing Elke im Nacken, dass blaugraue T-Shirt inzwischen fast komplett dunkel und klebrig-nass am Leib, der Atem noch immer mehr ein lautes Hecheln. Obwohl die Gänge des Hauses Instenburg angenehm klimatisiert waren, stand ihr der Fußmarsch durch die Mittagshitze noch auf der Stirn.
Die Durchquerung des Stadtparks war Elke nicht nur aufgrund der unnachgiebigen Sommersonne schwer gefallen, auch hatte sie alsbald mit zahlreichen spitzen Steinchen in den Sandalen zu kämpfen, die sich vom sandigen Parkweg immer wieder unter ihre Fußsohlen legten, ganz gleich wie oft sie diese entfernte. Ja, ja… der Park war schön und ganze der Stolz Eatrich’s. Es war hervorragend gepflegt, lud über Tafeln und Schaukästen zum Lernen über das ländliche Ökosystem mit seinen zahlreichen Pflanzen und Tieren ein. Klärte so auch über die Wichtigkeit des Naturschutzes auf und schuf nun einmal den direktesten Weg von Eatrich und der Klinik… aber Herrschaftszeiten, eine aus Asphalt gegossener Wegstrecke hätte es doch auch getan. Elke brütete und grummelte noch bei Erreichen der Kurklinik in sich hinein und rieb sich die geschundenen Füße, nachdem sie vom Marsch und der Hitze erschöpft erstmal auf einer Bank zusammengesunken war.

Das Haus Instenburg thronte regelrecht am äußersten Nordpunkt des Eatricher Stadtparks und glich von außen noch immer dem Hotel, was es einst gewesen war; ein gelber Backsteinbau mit roten Klinkerumrandungen an Fenstern und Eingangspforte. Selbst den Namen hatte die Einrichtung behalten, was Elke schon ein wenig wunderte. Doch im Grunde machte es auch wieder Sinn, den alteingesessenen und überregionalen Status vom Hotel Instenburg, welches in all den Jahren stets für einen Ort der Erholung und innerer Ruhe gestanden hatte, zu nutzen. Dem Bekannten wird ja oft mehr vertraut.
Angeblich lagen hinterm Haus noch extra Gartenanlagen für die Kurgäste und es sollte wohl eine kleine Privatstraße geben, die das Klinikgelände mit der Bundesstraße östlich des Waldes verband; den Spazierweg über Stock und Stein hatte man schon zur damaligen Zeit niemanden aufgezwungen.

Von ihrem Besuch in der Kurklinik versprach sich Elke den Rest ihrer noch offenen Fragen für die geplante Reportage zu klären. Sie wollte mehr über Clara‘s Leben und vor allem ihren Lebensgefährten erfahren, den sie ja mittlerweile schon mehrfach erfolglos versucht hatte zu erreichen. Auch würde Elke mit ihren ehemaligen Mitpatienten sprechen, um zu eruieren, ob es möglicherweise Spannungen unter ihnen gab. Und über Ärzte erhoffte sie sich Auskunft über Clara Wiltau‘s tatsächlichen Gesundheitszustand. Das war ein guter Schlachtplan, wie sie fand. Doktor Hinterseer würde bestimmt mit sich reden lassen und ihr die Erlaubnis und den Zugang zu all dem geben.
Nur finden müsste Elke ihn jetzt noch.
Die Gänge glichen einander bis aufs Staubkorn, die Wegweiser verwirrten leider eher als das sie halfen und die Auskunft, die sie von der Gruppe rauchender Patienten vor dem Haus bekommen hatte, ließ auch zu wünschen übrig.
Auf keine Menschenseele treffend, zog Elke ziellos im Gebäude herum, bis sie plötzlich auf einen Gang stoß, der so gar nicht dem Rest der blass-blauen Korridore entsprach. Ihr war als stünde sie in einer Ausstellung. Die Wände verziert mit Ketten aus kleinen Holzkugeln in Bordeaux, die in komplizierte Muster geknotet zwischen verschiedensten Gemälden hingen. Erst glaubte Elke einem Relikt aus Hotel-Zeiten gegenüber zu stehen, doch dann fielen ihr die Jahreszahlen an den Bildern auf, welche deren Entstehungszeit nannten. Alle, bis auf zwei, datierten sich innerhalb der vergangenen letzten sieben Monate, was Elke nach einer ersten Runde durch den Gang schnell erkannt hatte und was sie dazu bewog sich die Bilder genauer anzusehen. Wer weiß, vielleicht hingen vor ihr ja die Werke des so hoch gelobten Zeichenkurses, vom dem Frau Maurer geschwärmt hatte.

Eine Landschaftsmalerei zeigte sich im ersten Bild. Ein Fluss, der sich durch einen kargen Winterwald schlängelte und… Irgendetwas Rotes schien im Flussbett zu hängen… Signatur abgebröckelt

Einem offenen Bauchraum in strahlenden Ölfarben sah sich Elke auf der gegenüberliegende Seite des Ganges entgegengestellt… die Organe in Originalgröße, wie es schien… ein morbider Pathologe vielleicht… hm… Signatur C.L.H.

Im Bündel folgten als nächstes drei Öl-Portraits… ein blonder Teenager-Lockenkopf, ein verschlissener Typ, ein schwarzhaariges Mädel… es hieß immer, man könne in jedem Portrait das Abbild eines bekannten Menschen finden; Elke fand nichts… Signatur C.L.H.

Ein tiefer Atemzug und die Erkenntnis, dass es sich bei der hier ausgestellten Sammlung wohl nicht um die Ergüsse begeisterter Laien handelte, und Elke stellte sich den letzten Werken.

„Eine Studie verschiedener Blühpflanzen in Acryl auf Seide” hieß es unter dem vor 25 Jahren datierten Bild.

Blumen, das wäre was für Ruby.
Elke fragte sich, ob die Künstlerin wohl auch heute noch aktiv war, dann hätte sie das perfekte Geschenk – nur, dass es für ihre liebste Freundin andere Pflanzen sein müssten.

Kunstfertigkeit und ein Auge für Details wurden durchaus deutlich in der „Reihe von Mohnblumen, Disteln und gelben Rosen“… Signatur K.M.L.

Das Grinsen, welches Elke beim Anblick des nächsten Bildes übers Gesicht zuckte, konnte sie sich nicht verkneifen:

Mohnblumen, Disteln und gelbe Rosen, aber erst drei Jahre später und offenbar von Kinderhänden in Ölkreide geschaffen… Signatur L.C.H.

Vielleicht war es ja, dass Elke vor den Werken einer Künstlerfamilie stand, welcher in diesem Gang die Chance gewährt wurde sich vorzustellen, um Werbung zu machen oder sowas. Die Frage, ob diese Möglichkeit grundsätzlich jedem offenstand, konnte Elke nicht mal mehr komplett durchdenken, denn der Anblick des letzten Bildes raubte ihr den Atem…

„Eine weiße Lilie“ sanft gebetet in feuchtes Gras auf nassem Waldboden… Signatur … nicht mehr lesbar

Die Farbe war noch nicht ganz abgetrocknet und klebte grün-braun-weiß an den Fingerspitzen von Elkes rechter Hand, die linke zur Faust geballt verschloss diese ihren Mund, verbarg den stummen Schrei.

***

„Was haben Sie verloren?!”

Wie lange Elke, wie angewurzelt vor dem Bild mit der weißen Lilie gestanden haben musste, konnte sie nur vermutet.

„Hey! Wer sind Sie?”

Ihre Beine fast steif, die Finger verkrampft, in den Ohren ein Rauschen, kalt war der Schweiß, der ihren Nacken herunterlief.

„Ist alles in Ordnung?”

Eine mächtige Hand legte sich vorsichtig auf Elkes rechte Schulter und drehte sie von der Wand weg und hin unter stechend grüne Augen, welche sie sorgsam, aber auch herausfordernd betrachteten.
Dieses fast schon hypnotische Augenpaar lag hinter einer dicken Hornbrille und unter den Falten einer in Fragen gelegten hohen Stirn. Die weiße Lockenpracht, welche das Haupt des stämmigen Mannes schmückte, stand jedoch im starken Kontrast zu seinem Alter, das irgendwo in den 60er liegen musste. Als Elke noch immer unfähig schien ihm Rede und Antwort zu stehen, hob er seine kräftige Hand von ihrer Schulter, steckte diese ohne sie zur Begrüßung zu reichen in die Tasche seines weißen Arztkittels und nahm ein paar Schritte Abstand von Elke und ihrer überdeutlichen Nervosität.

„Guten Tag.”, bebte seine Stimme in Elkes hochroten Ohren, „mein Name ist Reginald Hinterseer, Doktor Hinterseer. Und Sie sind?”

„E…Elke Unmut…”, brachte sie stammelnd hervor.

„Ah, ich habe sie schon erwartet.”

„J…Ja… tut m…mir leid… Hab …”

Ein schriller Aufschrei im Haus unterband jedes weitere Wort.

Fortsetzung folgt

Auf Umwegen_Vorwort

Verloren auf dem Weg war die eine Geschichte, welche bereits 10 Jahre darauf gewartet hatte ein Ende zu finden. Und wie das manchmal so ist, entwickelte diese sich nicht nur in eine etwas andere Richtung, als ursprünglich geplant, sondern wuchs auch über diese und sich selbst hinaus.

Es ist also jetzt eine Reihe von Geschichten angedacht: über das Leben, sich Suchen und anderes Finden in diesem kleinen Ort, der sich doch mehr als Metropole gibt. In dem Jeder alles sieht und doch nie etwas erkennt, denn man ist in Eatrich stets Allein unter Weggefährten.

Auf Umwegen ist nun der zweite Teil. Man kann diesen auch ohne Verloren auf dem Weg zu kennen, verstehen.
Jedoch ist ein jeder dazu eingeladen mit den Protagonisten durchs Leben zu ziehen und über Wurzeln und Gedankengänge zu stolpern Katze4

Auf Umwegen

Auf Umwegen_aquarell_1

Nun da Elke endlich auch innerlich in Eatrich angekommen ist, wird die Ruhe des Stadtlebens und ihr sanfter Einstieg ins Reporterleben mit dem Fund einer Frauenleiche erschüttert.
Bei ihrem Versuch näheres über das Opfer zu erfahren, stolpert Elke über nicht nur ein Hindernis…